Fußball-Schiedsrichtern ist es am liebsten, wenn nach Spielen nicht über sie gesprochen wird – weil sie dann gut gepfiffen haben. Der Videobeweis soll ihnen helfen, Fehler zu vermeiden. Doch das klappt nur bedingt. Weshalb über Schiedsrichter mehr denn je diskutiert wird

Stuttgart - SC Freiburg, Hamburger SV, VfL Wolfsburg, 1. FC Köln, FSV Mainz – es gab einige Vereine, deren Hoffnungen sich am Wochenende nicht erfüllt haben. Der größte Verlierer des vierten Bundesliga-Spieltags aber trug weder Kickschuhe noch Trikot: Der Videobeweis stellte sich derart ins Abseits, dass selbst seine pfiffigsten Befürworter die Luft anhielten. Dabei hatten sie allen Fußball-Fans vor dem Saisonstart drei wichtige Punkte versprochen: Gerechtigkeit, Transparenz, Eindeutigkeit. Von Problemen war eher nicht die Rede. Doch es kam anders, womit auch die Schiedsrichter zu kämpfen haben. Ein Überblick.

 

Die Technik: Gleich am ersten Spieltag gab es gravierende Schwierigkeiten. Die Videoassistenten konnten in Hoffenheim, Hamburg und Berlin (beim Spiel der Hertha gegen den VfB Stuttgart) zunächst nicht eingesetzt werden, weil keine Kommunikation zwischen den Schiedsrichtern und dem Kontrollzentrum in Köln möglich war. Danach funkte es richtig: Der technische Dienstleister Hawkeye wurde von der Deutschen Fußball-Liga (DFL) zum Rapport bestellt. Seither klappt die Absprache. Ein Problem ist geblieben: Weil an den ersten Spieltagen nach Abseits-Entscheidungen keine kalibrierten Linien zur Klarstellung eingezogen werden konnten, verzichtet die DFL vorerst komplett auf das Hilfsmittel.

Die Fehlerkorrektur: Selbst Kritiker müssen zugeben, dass es in der Bundesliga nun gerechter zugeht. Die Videoassistenten im TV-Studio in Köln lagen bei einigen Elfmetern, Roten Karten oder Fouls vor Torerfolgen, die ansonsten nicht gepfiffen oder gegeben worden wären, absolut richtig. Das Problem: Es passieren immer noch genügend Ungerechtigkeiten. Zum Beispiel am Samstag, an dem es gleich drei Horrorszenen gab.

Wolfsburgs Torhüter Koen Casteels traf Christian Gentner mit dem Knie derart heftig im Gesicht, dass der VfB-Kapitän mit mehreren Knochenbrüchen im Krankenhaus landete. Schalkes Verteidiger Thilo Kehrer mähte Max Kruse um, beim heftigen Aufprall auf den Rasen brach sich der Bremer Stürmer das Schlüsselbein. Und der Leipziger Naby Keita riss sein Bein beim Versuch, den Ball zu spielen, derart hoch, dass er den Gladbacher Christoph Kramer mit dem Stollen seines Schuhs ein Loch in die Oberlippe bohrte. In allen drei Fällen kommunizierten die Schiedsrichter mit ihren Videoassistenten, heraus kamen drei völlig unterschiedliche Bewertungen: Rot und drei Spiele Sperre für Keita (richtig), Gelb für Kehrer (milde), keine Karte für Casteels (falsch). Kein Wunder, dass Jörg Schmadtke, Manager des 1. FC Köln, eine einheitliche Regelauslegung vermisst: „Es kann doch nicht jeder machen, was er will.“

Gesagt hat er dies nach dem krassesten Fall des Wochenendes. Videoassistent Felix Brych erklärte das 2:0 von Borussia Dortmund für gültig, obwohl das Tor erst gefallen war, nachdem Schiedsrichter Patrick Ittrich die Partie wegen eines vermeintlichen Foulspiels (das keines war) abgepfiffen hatte. Damit verstießen die Unparteiischen nicht nur gegen ihre eigenen Statuten, die obersten Regelhüter müssen nun auch die knifflige Frage beantworten, ob ein falsch angewandter Videobeweis eine Tatsachenentscheidung ist oder nicht. Man muss diesen speziellen Fall nicht bis ins letzte Detail durchschauen, um sagen zu können: Klarheit geht sicher anders.

Die Psychologie: Unstrittig bleibt, dass sich durch den Videobeweis die Zahl der Fehlentscheidungen reduziert hat. Deutlich wird aber auch: Eine Entlastung für die Schiedsrichter ist nicht spürbar. Im Gegenteil. Und das hat auch mit der veränderten Rolle der Unparteiischen zu tun.

Früher war klar: Der Mann mit der Pfeife ist der Chef auf dem Platz. Sein Urteil gilt, es ist unumstößlich. Mit einem entsprechenden Selbstverständnis traten die Schiedsrichter auf, sie waren entscheidungsfreudig, oft mutig, immer bestimmend. Und heute? Scheinen sich viele zu gerne hinter dem Videoassistenten zu verstecken. Eigentlich ist der Kollege in Köln nur dazu da, um bei Toren, Elfmetern und Roten Karten eine Empfehlung auszusprechen, wenn er sich ganz sicher ist, dass der Unparteiische falsch lag. In der Praxis sieht es so aus, als säße in Köln eine Art Oberschiedsrichter, der immer dann eingreift, wenn der Pfeifenmann im Stadion sich mal wieder nicht getraut hat, eine (harte) Entscheidung zu treffen und das Spiel stattdessen lieber weiterlaufen lässt – im Wissen, dass er schon korrigiert wird, sollte es nötig sein. Aus Sicht von Experten wirken viele Schiedsrichter mittlerweile verunsichert und fremdbestimmt.

Das liegt natürlich an der Einführung des Videobeweises, hat aber sicher auch mit dem Umbruch in der Gilde zu tun. Zuletzt haben altgediente Recken wie Knut Kircher, Wolfgang Stark, Florian Meyer, Michael Weiner, Peter Sippel oder Jochen Drees aufgehört. Aktuell pfeifen neun Schiedsrichter ihre erste oder zweite Bundesliga-Saison, darunter Sören Storks (28), der an diesem Dienstag das Spiel von Borussia Mönchengladbach gegen den VfB leitet. Sie müssen erst noch ihre Erfahrungen sammeln. Und Fehler machen, aus denen sie lernen können.

Die Emotionen: Die (nichtöffentlichen) Tests in der vergangenen Saison führten zur Prognose, dass der Videoassistent pro Spieltag nicht öfter als zweimal intervenieren wird. Die Realität liegt nun allerdings eher bei zwei Korrekturen pro Spiel. Während der TV-Konsument alles schön erklärt und zig Zeitlupen geliefert bekommt, erschließt sich dem Zuschauer im Stadion oft nicht, warum Entscheidungen geändert wurden. Und warum es so lange gedauert hat. Und wann nun endlich ein Tor bejubelt werden kann. Der Videobeweis als Stimmungskiller? Zumindest, so meinen die Kritiker, drohe der Charakter des Spiels verloren zu gehen – Schnelligkeit, Spontaneität, Spaß. Am deutlichsten wurde dies am Sonntag in Dortmund. Die BVB-Fans wollten sich nicht darüber freuen, dass ihrem Team beim Stand von 2:0 gegen den 1. FC Köln per Videobeweis ein Elfmeter zugesprochen wurde. Stattdessen riefen sie: „Ihr macht unser Spiel kaputt.“