Daimler muss sich des Vorwurfs erwehren, in der Dieselaffäre getrickst zu haben. Zwei Mitarbeiter des Konzerns berichten gegenüber der StZ über Vorgänge, die zumindest Fragen aufwerfen.

Stuttgart - Aufmerksam geworden sind Thomas S. und Stefan R. gleich im Herbst 2015, als der VW-Abgasbetrug aufgeflogen ist. Da haben sich die beiden Daimler-Mitarbeiter, die in Wahrheit anders heißen, sich aber nur im Schutz der Anonymität äußern wollen, über Testergebnisse der Deutschen Umwelthilfe (DUH) gewundert. Danach schafften es viele deutsche Fabrikate mit modernen Dieselmotoren nach der Norm Euro 6 trotz des Abgasreinigungssystems Bluetec nur auf dem Prüfstand, die Grenzwerte beim Stickoxid (NOx) einzuhalten; im Fahrbetrieb lagen die Emissionen um ein Vielfaches darüber – auch bei Daimler.

 

Auf der Suche nach den Gründen stießen die beiden bei den Volumenmodellen der C-, E- und S-Klasse darauf, dass Daimler je nach Baureihe und Motorvariante und je nach Absatzmarkt Tanks unterschiedlicher Größe für Adblue einbaut; Adblue ist eine Harnstofflösung, die das schädliche NOx neutralisiert und nach den Vorstellungen der Industrie im Rahmen der Inspektion in der Werkstatt nachgefüllt werden soll. Der Grund: Das Mittel ist klebrig, weshalb die Autofahrer damit möglichst nicht in Berührung kommen sollen.

Wurden für die USA größere Adblue-Tanks eingebaut?

„Autos für den US-Markt und Kanada“, so erzählen Thomas S. und Stefan R., „hatten die größten Tanks.“ Und weiter: „Das waren Tanks mit 25 Litern und mehr. Für den deutschen Markt und für Europa waren sie nur halb so groß, ungefähr acht bis zwölf Liter.“ Daimler hält dem entgegen, dass sich die Tankgröße grundsätzlich nicht nach Märkten richte, sondern modellabhängig sei. Richtig sei, so heißt es, dass der Kunde bei einigen Modellen – C-Klasse sowie V-Klasse – zwischen einem kleinen und einem großen Tank wählen könne. Wählbar sind 8,5 (C-Klasse) beziehungsweise 11,5 Liter (V-Klasse) oder 25 Liter. Mehr als 90 Prozent der Kunden entscheiden sich nach Angaben von Daimler für den größeren Tank.

Auf der Suche nach der Antwort auf die Frage, wie die Abgasreinigung auch mit einem Acht-Liter-Tank funktionieren kann, stieß Stefan R. auf Informationen, die zumindest dem Ergebnis nach mit der offiziellen Linie des Konzerns übereinstimmen. Daimler verwendet eine Abschalteinrichtung – zum Schutz des Motors und im Einklang mit den rechtlichen Vorgaben, wie das Unternehmen beteuert. Anfang 2016 bestätigte Daimler, dass zum Beispiel bei dem C-Klasse-Mercedes Bluetec 220 CDI bei Temperaturen unter zehn Grad die Abgasreinigung heruntergeregelt wird, um den Motor zu schützen – mit dem Effekt, dass im Straßenbetrieb weniger Adblue verbraucht und mehr NOx emittiert wird. Auf dem Prüfstand arbeitet die Abgasnachbehandlung hingegen aufgrund der dort herrschenden mäßig warmen Temperaturen einwandfrei.

Die Abschalteinrichtung ist höchst umstritten

Abschalteinrichtungen sind nach einer Verordnung von Europaparlament und Europäischem Rat aus dem Jahr 2007 eigentlich verboten. Dies gilt nach dem Wortlaut aber nicht für den Fall, dass „die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung . . . zu schützen“. Darauf beruft sich Daimler. Und damit ist der Konzern bisher durchgekommen, auch wenn das Experten wie der Rechtswissenschaftler Martin Führ von der Hochschule Darmstadt für nicht in Ordnung halten. Führ, der Gutachten für den Abgas-Untersuchungsausschuss des Bundestags geschrieben hat, hält eine enge Auslegung für geboten: Wer von dem Verbot abweichen wolle, so hat er geschrieben, müsse das besonders rechtfertigen und den Nachweis erbringen, dass die Abschalteinrichtung „notwendig“ sei. Um Detailinformationen, etwa zum Mercedes-Motor, hat er das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) im vorigen Jahr gebeten. Ergebnis? Fehlanzeige. Er habe bisher nichts erhalten, sagte der Wissenschaftler der Stuttgarter Zeitung. Eine klare Meinung zum Thema Abschalteinrichtung gibt es in der Juristenzunft freilich nicht. Die Frage bleibt offen: Wer wird da geschützt, der Motor oder der Adblue-Vorrat?

Ganz sicher scheint sich Daimler seiner Sache nicht gewesen zu sein. Thomas S. hat beobachtet, wie vor zwei Jahren gegengesteuert wurde. Er erinnert sich: „Nach dem VW-Skandal ist unser interner Fuhrpark mit einer größeren Menge an Adblue als zuvor versorgt worden. Die Serviceintervalle wurden auf 6000 Kilometer gesenkt, weil die Tanks vorzeitig leer waren. Die normalen Intervalle liegen bei 20 000 oder 25 000 Kilometern, das ist mit kleinen Acht-Liter-Tanks nicht zu schaffen. Im Fuhrpark wurde also gegengesteuert, während auf der Straße manipulierte Autos unterwegs waren.“ Stefan R. ergänzt: „Aus dem Service haben wir gehört, dass manchmal Fahrzeuge aus irgendwelchen vorgeschobenen Gründen in die Werkstatt geholt wurden, um dann die Adblue-Tanks wieder aufzufüllen.“ Daimler bestreitet auf Anfrage, dass die Serviceintervalle verkürzt wurden, aber die beiden bleiben dabei: „Gemacht wurde es trotzdem.“ Danach ist Daimler nach ihren Angaben dazu übergegangen, größere Tanks zu verbauen, obwohl das nach Einschätzung von Thomas S. mit enormen Kosten für das Unternehmen verbunden war. Gelegenheit für solch eine Maßnahme sind üblicherweise Facelifts, also umfangreiche Überarbeitungen eines Modells zur Mitte der Laufzeit, die meist bei sechs bis acht Jahren liegt. Denn außerhalb der Modellpflege, so sagt Thomas S., würde das bei Daimler kein Controller genehmigen. Der Konzern widerspricht jedoch: „Auch im Rahmen eines Facelifts wurden keine größeren Tanks eingebaut.“ Aussage steht gegen Aussage.

Im Unternehmen geht die Angst um

Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft geht, wie berichtet, dem Verdacht nach, dass Daimler Abgaswerte manipuliert hat; das wäre Betrug. Die vielen Probleme (siehe Infobox) drücken offenbar auf die Stimmung im Unternehmen. „Intern wird mit Informationen jetzt sehr viel restriktiver umgegangen“, erzählen die beiden Mitarbeiter. „Jeder sensible Bereich zieht intern die Mauern hoch. Es gibt Richtlinien, dass alles, was heikel ist, absolut verschwiegen behandelt werden soll“, sagt Stefan R. „Das war früher nicht so.“ Und Thomas S. ergänzt: „Auch der Umgang der Mitarbeiter untereinander hat sich verändert. Es ist, als ob jeder einen imaginären Maulkorb tragen würde.“ Es werde zwar durchaus diskutiert, aber das gehe meist nur bis zu ersten Hierarchiestufe. „Es herrscht teilweise auch einfach Angst unter den Führungskräften, die ja wiederum Chefs haben.“

Trotzdem haben Thomas S. und Stefan R. nicht den Eindruck, dass im Unternehmen wirklich ein Bewusstseinswandel eingesetzt hat; aus ihrer Sicht dominiert weiter die Haltung, eigentlich nichts falsch gemacht zu haben. So versichert Daimler in Mitteilungen regelmäßig, mit allen Behörden vollumfänglich zusammenzuarbeiten. Gleichwohl ist das Unternehmen gerichtlich gegen die vorläufige Sicherstellung von Unterlagen durch die Staatsanwaltschaft vorgegangen. Und intern? Die beiden Daimler-Mitarbeiter sind zum Beispiel jüngst darauf gestoßen, dass in Fahrzeugen in die Abgasanlagen so genannte Aktuatoren eingebaut werden. Das kam ihnen verdächtig vor. Aktuatoren sind Klappen, die per Software von einem Steuergerät geöffnet werden, Sauerstoff ansaugen und dann wieder geschlossen werden.

Sportlicher Sound oder Manipulation?

Als Zweck dieser Einrichtung wurde intern angegeben, dass es darum gehe, die Akustik des Abgassystems zu verändern und einen sportlicheren Sound zu erzeugen. Physiker haben dem entgegengehalten, dass für diesen Zweck die Klappen in der Nähe des Motors angebracht werden müssten. Dort sind sie aber nicht eingebaut, sondern eher Richtung Endrohr. Was noch auffällt: Die Aktuatoren finden sich nicht nur in den Abgasanlagen von sportlichen Fahrzeugen, was nach den internen Angaben eigentlich zu erwarten wäre. „Wenn so etwas in einem Auto mit 1,4- oder 1,5-Liter-Motor eingebaut wird und dieses Auto ist keine Sportversion, dann macht das doch überhaupt keinen Sinn. Wir haben vielmehr den Verdacht, dass wir es hier mit einer Abschalteinrichtung zu tun haben; die Abgase werden sozusagen mit Frischluft angereichert“, sagt Thomas S., und Stefan R. stimmt ihm zu.

Daimler präzisiert auf Nachfrage, dass es in der Tat möglich sei, einen sportlicheren Motorsound zu erzeugen; vor allem aber gehe es darum, im gesamten Betriebsbereich eine komfortable, nicht als störend empfundene Innenraumakustik zu erhalten, weshalb die Aktuatoren auch bei kleinen Modellen zum Einsatz kämen, die nicht als Sportversion verkauft werden.

Wird die nächste S-Klasse fremdgesteuert?

Stutzig macht die beiden Beschäftigten auch, dass für die künftige S-Klasse mit der internen Bezeichnung W223 an einem System gearbeitet wird, das von außen via Satellit den Zugriff auf die Motorsteuerung ermöglicht. Darüber spricht man im Unternehmen. Und was wäre die Folge? „Dann könnte so in die Steuerung eingegriffen werden, dass ein Fahrzeug auf dem Prüfstand stets die gewünschten Emissionswerte zeigt.“ Zur Einführung neuer Technologien bei künftigen Modellen äußert sich Daimler aus Wettbewerbsgründen grundsätzlich nicht. Bis die neue S-Klasse auf den Markt kommt, werden noch einige Jahre vergehen. Gerade hat das laufende Modell ein Facelift erhalten. Bei aktuellen Modellen, so heißt es, sei ein Zugriff auf die Motorsteuerung via Satellit nicht möglich.

Intern hat der Konzern seit einigen Jahren ein System, das es Mitarbeitern erlaubt, Verstöße – auch anonym – gegen die Einhaltung von gesetzlichen Vorschriften und internen Regelungen zu melden. „Denn nur wenn Regeln und Normen eingehalten werden“, so lautet die offizielle Daimler-Haltung, „können wir Schaden von unserem Unternehmen, unseren Beschäftigten und Geschäftspartnern abwenden. Fehlverhalten muss daher frühzeitig erkannt werden.“ Thomas S. und Stefan R. haben das Business Practices Office (BPO) freilich nicht eingeschaltet, weil sie Kollegen kennen, die schlechte Erfahrungen damit gemacht haben. So seien die Vorgesetzten von Hinweisgebern bisweilen trotz zugesicherter Vertraulichkeit über die Beanstandungen im Bilde gewesen, sagen sie. Stefan R. vermag sich darüber nicht zu wundern. Er glaubt nicht, dass die Anonymität gewährleistet ist, da alle Computer im Unternehmen eindeutig zu identifizieren seien.