Es war ein langer Weg, bis sich in der Kinderkrankenpflege wie im Olgäle in Stuttgart alles um die kleinen Kranken drehte und nicht um möglichst reibungslose Abläufe im Klinikalltag. Die Pflegereform stellt diese Errungenschaften wieder infrage.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Es ist mehr als die übliche Besserwisserei, die eben zum Erwachsenwerden gehört. Annegret Braun hat eine Vision vor Augen von einem Krankenhausbetrieb, der sich nach den Kranken richtet und nicht die Kranken den Abläufen der Klinik anpasst. „So werde ich es einmal nicht machen“, denkt die angehende Kinderkrankenschwester, als sie in der Milchküche steht und Brei kocht. Kalorienreich soll er sein. Die Kleinen sollen schließlich gepäppelt werden. Annegret Braun verrührt Fett, Milch, Grieß und Eier. Die Masse klumpt, sie erntet Tadel. Und die Schwesternschülerin fragt sich aufmüpfig und ernüchtert zugleich, ob es wirklich zu den Kernkompetenzen einer Kinderkrankenpflegerin gehört, Babybrei kochen zu können. Und muss sie wirklich kostbare Zeit, die dann bei der Pflege ihrer kranken Schützlinge fehlt, ins tägliche Putzen der Krankenzimmer stecken?

 

Es ist das Jahr 1969. Die Kinderkrankenpflege ist eine noch junge Disziplin. Erst 1957 ist sie als eigenständiger Ausbildungsberuf neben der allgemeinen Krankenpflege etabliert worden. Herablassend sprach man damals von der kleinen im Gegensatz zur großen Krankenpflege für Erwachsene. Die Etablierung des Berufsstands ist auch eine Befreiung von der Überzeugung, dass nicht falsch sein kann, was man schon immer so macht. 1966 wird die Ausbildungszeit von zwei auf drei Jahre verlängert. Schwester Annegret, wie man damals ganz selbstverständlich sagt, trägt noch eine weiße Haube auf dem Haar und hat ihre Ausbildung in der Kinderkrankenpflege am Stuttgarter Olgahospital gerade begonnen. Sie ist 19 Jahre alt.

In der Frühgeborenenstation erlebt sie herzzerreißende Szenen. All das, was alle Eltern auf der Welt intuitiv mit ihrem kranken Kind tun, ist dort verboten. Kinder und Eltern sind durch eine Glasscheibe getrennt. Berühren, streicheln oder gar liebkosen ist unmöglich. Aus Ansteckungsgefahr, wie es heißt. Die Krankenschwestern halten die Säuglinge stattdessen für drei Minuten an die Trennscheibe. Die Eltern können sie nur anschauen. Die Sammelstelle für die Flaschen mit der abgepumpten Muttermilch ist gleich nebenan.

Ins Olgäle zieht der Geist der neuen Zeit ein

Es ist der emotionale Ausnahmezustand für Eltern und ihre Kinder. Zweimal in der Woche sind Besuche für je zwei Stunden erlaubt und Abweichungen von der Regel streng verboten. Auch in den übrigen Kinderstationen des Olgäle ist die Dauerbesuchszeit für Eltern noch Zukunftsmusik. Warum können die Mütter und Väter nicht so wie wir einen Mundschutz tragen, fragt Annegret Braun, dann seien sie ja auch nicht ansteckender als die Schwestern – und erntet nur Kopfschütteln.

Ihr Widerspruch regt sich immer wieder. Sie zweifelt an der Sinnhaftigkeit der Abläufe und macht daraus kein Geheimnis. Denn vieles von dem, was die Leiterin der Schule, Marianne König, in der Theorie lehrt, findet die Schülerin in der täglichen Praxis nicht wieder. Die Lehrerin wird ihr berufliches Vorbild. Sie verspricht Annegret Braun: „Wenn Sie Ihr Examen haben, unterstütze ich Sie von der Schule aus.“

Nicht alle Schwestern denken wie Annegret Braun. Aber sie will sich nicht mit dem Status quo abfinden. Auch nach dem Abschluss ihrer Ausbildung 1972 hört sie nicht auf, die möglichst besten Rahmenbedingungen für kranke Kinder anzumahnen. Glücklicherweise stellt sie ihre Fragen in eine Zeit des Umbruchs hinein. Draußen in der Gesellschaft werden alte Zöpfe abgeschnitten, und ins Olgäle kommen Ärzte, die in Amerika einen anderen Umgang mit kranken Kindern erlebt haben. In die Klinik zieht der Geist der neuen Zeit ein.

Der ansonsten eher ruhige, in dieser Sache dann aber sehr energische Chefarzt Heinrich Brunner beendet schließlich die Diskussion und führt – von einem Tag auf den anderen – die tägliche Dauerbesuchszeit von acht bis 18 Uhr ein. „Und dann schauen wir mal, ob das Krankenhaus zusammenbricht“, sagt er. Die Klinik bricht nicht zusammen. Das Olgäle ist 1973 mit dieser Neuerung die erste Kinderklinik in Deutschland, die so fortschrittlich handelt.

Anwältin ihrer kranken Schützlinge

Annegret Braun versteht sich als Anwältin ihrer kranken Schützlinge, als Mittlerin zwischen Kindern, ihren Eltern und den Ärzten. Mit dem medizinischen Wissen und vor allem den Erkenntnissen aus der genauen Beobachtung der Kranken will sie den Ärzten auf Augenhöhe gegenübertreten. Die Eltern in die Klinik zu holen heißt für sie nicht, den Schwestern Arbeit abzunehmen. Vielmehr gibt es ihnen den Freiraum, die Kinder umfassend zu begleiten.

1976 geht Annegret Braun auf die Schwesternhochschule der Diakonie nach Berlin-Dahlem, wird Lehrerin für Kinderkrankenpflege in der Schweiz, damals das fortschrittlichste Land auf diesem Gebiet, baut später in Stuttgart zusammen mit der AOK den ambulanten Kinderkrankenpflegedienst auf, um 1985 als Klinikseelsorgerin auf die Frühgeborenen-Intensivstation ins Olgäle zurückzukehren.

Wenn sie erzählt, merkt man, wie sehr sie die Kinder gemocht und mit wie viel Verständnis für deren Bedürfnisse pflegerisch begleitet hat. „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“, sagt sie. Deshalb müssen sie anders betreut werden – medizinisch und menschlich. „Mitte der 70er Jahre hieß das dann patientenzentrierte Pflege“, erinnert sich Annegret Braun. Die weitere Entwicklung gibt ihr recht.

40 Jahre später könnte sie sich also zurücklehnen und über das Erreichte freuen. Tut sie aber nicht. Im Gegenteil, sie ist in Sorge, dass hart erkämpfte Fortschritte wieder aufgegeben werden. Sie befürchtet, dass ein Berufsstand das allmählich gewachsene Selbstbewusstsein verliert. Für Annegret Braun ist es ein erster Schritt der Vorwärtsverteidigung, jetzt Bilanz zu ziehen. Und die sieht so aus: Die mühsam ertrotzte Zeit fließe heute in die Dokumentation innerhalb des Krankenhausbetriebs. Die Kinderkrankenpflege werde wieder zu einer Unterabteilung der allgemeinen Pflege und nur noch eine Frage des richtigen Managements.

Forschungsprojekt von der Robert-Bosch-Stiftung

Da war es ein mehr als glücklicher Zufall, dass die unerschrockene ehemalige Kinderkrankenschwester und die Historikerin Sylvelyn Hähner-Rombach sich bei einer Veranstaltung in Stuttgart zufällig über den Weg gelaufen sind. Die eine hat die Erlebnisse, kennt die Akteurinnen von damals und quillt über vor Mitteilungsdrang. Die andere forscht am Institut für Medizingeschichte der Robert-Bosch-Stiftung an der Geschichte der Pflege. Das Stuttgarter Institut ist das einzige in Deutschland, das sich um diesen Aspekt wissenschaftlich anspruchsvoll kümmert.

Getragen ist diese Forschung von der Überzeugung, „dass es der Krankenpflege generell an politischem Selbstbewusstsein fehlt“, wie Sylvelyn Hähner-Rombach feststellt. Und die Kinderkrankenpflege gehe noch ein bisschen gebückter. „Ihre Geschichte ist nicht mal in Ansätzen geschrieben.“ Das soll sich nun ändern.

Im Zusammenspiel der Zeitzeugin und der wissenschaftlichen Chronistin soll eine vielstimmige Geschichte der Kinderkrankenpflege in Stuttgart für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entstehen. „Wir wollen diejenigen fragen, die diese Ausbildung noch gemacht haben“, sagt Sylvelyn Hähner-Rombach. Gesucht sind nun Frauen, die erzählen können, wie die Kinderkrankenpflege zu dem wurde, was sie heute ist. Oder die vielleicht auch einfach nur wissen, wann die Haube mit den ewig drückenden Haarklemmen von den Köpfen der Schwestern verschwunden ist. Annegret Braun glaubt, es war im Jahr 1971, und erinnert sich, dass sie an einem Kinderbett zeigen musste, wie oft man beim Bücken mit der Haube am Gitter hängen blieb.

Aber Sylvelyn Hähner-Rombach und Annegret Braun sind nicht von Sentimentalität für die Vergangenheit getragen. Über die Kinderkrankenpflege zu sprechen ist hochpolitisch. Ihre Entwicklung hin zum Allroundpfleger aufzuzeigen ist in Zeiten der Pflegereform fast schon ein bisschen subversiv. Denn das, was in den 70er Jahren geschehen ist, kann man als eine Geschichte der Emanzipation lesen – nicht nur der Kinderkrankenschwestern selbst, sondern auch eines Berufsstandes. Auch Sylvelyn Hähner-Rombachs Studenten, die an der Dualen Hochschule Pflegewissenschaften studieren, fragen, wie der Beruf, den sie anstreben, zu dem geworden ist, was er heute ist. In Zeiten des Umbruchs ist es für die Forscherinnen wichtig, Antworten auf solche Fragen zu haben, „um womöglich nicht die gleichen Fehler noch einmal zu machen“.