Ulrike Zecher, aufgewachsen in Metzingen, ist eine der renommiertesten Strafverteidigerinnen Berlins, Frauenrechtlerin, Ex-Kommunistin, Ex-Grüne und Schwäbin. Abschluss der zehnteiligen Serie über Schwaben in Berlin.

Metzingen - Berlin hat Ulrike Zecher ihr geliebtes Cello gekostet. Aber heute, gut 40 Jahre später, kann sie sagen: Das hat sich echt gelohnt.

 

Wie sich das anfühlt, spürt sie manchmal morgens, wenn sie von ihrer Wohnung in einer Seitenstraße direkt auf den Savignyplatz spaziert, an dem ihre Kanzlei liegt. Droben in der Beletage angekommen, kann sie dann vom Schreibtisch aus den Tag vorüberziehen sehen, dieses geschäftige, rauschende Treiben – im Sommer über dicke Geranien auf ihrem Balkon hinweg, oder jetzt im Winter von den roten Neonschriftzügen der Kneipen und Cafés beleuchtet.

Es atmet sich gut mit Blick auf die große, graue, bunte Stadt, auch wenn an manchen Tagen ein dicker Seufzer dazukommt – so wie vergangenen Freitag. Weil es halt immer wieder Kämpfe gibt, die man nicht gewinnen kann, zumindest vorerst. So war es oft in der Lebensgeschichte von Ulrike Zecher, Strafverteidigerin, Frauenrechtlerin, Ex-Kommunistin, Ex-Grüne, Schwäbin.

Am Freitag hatte sie gedacht, sie könne jetzt ein Kapitel dieser Geschichte abschließen. Da sollte nämlich die ehrwürdige Vereinigung der Berliner Strafverteidiger endlich ihren Namen ergänzen – um die Strafverteidigerinnen. Es klappte nicht.

Als der Verein vor einigen Jahren sein 50. Jubiläum feierte, war das schon undenkbar. Ulrike Zecher, Vorstandsmitglied, seit Jahrzehnten erfolgreiche Strafverteidigerin, organisierte damals die Jubiläumsfeier und wollte die Verfassungsgerichtspräsidentin Jutta Limbach als Rednerin gewinnen. Limbach schrieb aber nun im Briefwechsel dauernd an die „sehr geehrten Kollegen“. Bis Zecher nachfragte, was das soll. Da sagte die Präsidentin, sie könne ja gar nicht anders, so lange der Verein so heiße. Ulrike Zecher kämpfte damals vergeblich um die Umbenennung, das Thema schaffte es nicht mal auf die Tagesordnung. Weshalb sie damals nach all den Jahren aus der Vereinigung austrat. Inzwischen wieder eingetreten, dachte sie, dass die Abstimmung am Freitagabend eine Formsache sei. Weit gefehlt. „Manchmal muss man weitergehen, wenn man Dinge nicht ändern kann“, sagt sie.

Unnachgiebige Energie

Entspannt sitzt Ulrike Zecher in einem Freischwinger am Besprechungstisch ihres Büros und erzählt die Limbach-Geschichte. Auf dem Boden steht die eiserne Skulptur einer Diana, lässig, mit angewinkeltem Spielbein, den Bogen über die Schulter gelegt. Aber jederzeit zum Schuss bereit. Man kann deutlich etwas von der unnachgiebigen Energie spüren, die ihre Besitzerin entfalten kann, wenn es drauf ankommt. Zecher ist eine der renommiertesten Berliner Strafverteidigerinnen – jeder Richter im Kriminalgericht weiß, dass er es hier mit einer zu tun hat, die zwar nicht immer auf Konfrontation geht, aber immer gewinnen will. Und nicht locker lässt.

Ist dieses Immerweiterbohren schwäbisch? Jedenfalls ist es typisch Zecher, Dinge in Frage zu stellen. „Ich bin sehr frei groß geworden“, sagt die Anwältin. Nicht so selbstverständlich in Metzingen im Albvorland, in den 50er Jahren. Hier wuchs Ulrike Zecher als zweites von fünf Kindern auf, der Vater war Schneidermeister, der Opa hatte eine Schuhmacherwerkstatt, die Mutter einen Laden. Vielleicht sind das Berufe, in denen man das Durchhalten und das Genausein genau so lernt wie das Denken neuer Entwürfe.

Und für Mädchen und Frauen gab es in der Tat viel an neuen Entwürfen zu denken: „Wenn mein Vater mich besonders loben wollte, dann nannte er mich nicht Ulrike, sondern Ulrich. Und er meinte das total nett“, erinnert sich Ulrike Zecher. Aus der Schule wurde sie nach Hause geschickt, wenn sie Hosen trug. Und als sie in Tübingen ihr Studium begann, musste sie jeden Abend nach Hause fahren. Alleine wohnen als Frau ging nicht.

Wildes Studentenleben

All das hat sie politisiert, und so stürzte sich die freiheitsliebende Frau mitten ins wilde Studentenleben. Sie wurde Mitglied der Kommunistischen Partei. Wobei Kommunismus in Tübingen so aussah, dass der Juraprofessor einen weißen Porsche mit der Autonummer TÜ-ML 1 fuhr – für Marxismus-Leninismus – und Studenten bei guten Noten eine Spritztour gestattete.

Es gab auch echte Kämpfe. Als Zecher 1968 schwanger wurde – unverheiratet! – erlebte sie die staatliche Sicht auf Frauen am eigenen Leib: In der Familienrechtsvorlesung lernte die Studentin mit dem dicken Bauch, dass in der Weltanschauung des BGB der Mann „befehlsgeneigt“ und die Frau „gehorsamsgeeignet“ sei. Als die Tochter auf der Welt war, hatte Zecher wie alle ledigen Frauen damals nicht das Sorgerecht für ihr Kind – sondern der Staat.

Dieses Betteln um Unterschriften, diese Ungerechtigkeit habe sie radikalisiert, sagt Zecher heute. Natürliche Entwicklung in so einem Fall? Umziehen nach Berlin. Und so kam es zu der Sache mit dem Cello.

Denn eigentlich sollte das Land Berlin den Umzug bezahlen, so hatten es Ulrike Zecher und ihr späterer Mann, der Theaterregisseur Wolfgang Kolneder, sich gedacht. Das war die Regel für Rechtsreferendare, die in die ummauerte Stadt kamen. Dumm nur: Zecher fiel durch die Prüfung, weil ihr ein Punkt fehlte: Ein Prüfer hatte einfach zwei Klausuren gar nicht gewertet, weil ihm die Schrift zu unleserlich erschien. Es half alles nichts. Der Berlin-Plan stand, der Umzug musste bezahlt werden. Und Ulrike Zecher verkaufte ihr geliebtes Cello. „Ich habe nie wieder eine Saite gestrichen“, sagt sie, und heute noch sieht man beim Erzählen ihrem Gesicht an, wie weh das damals tat.

Der revolutionäre Strudel der Stadt

In Berlin geriet Ulrike Zecher voll in den revolutionären Strudel dieser Stadt und dieser Zeit. Die junge Frau lebte genau das freie Leben, das sie leben wollte und tauchte ein in jene aufgeheizte Atmosphäre, die nach Veränderung roch, und auch nach Gewalt. Neben der Revolution gab es noch ein paar andere Dinge, die getan werden mussten: Während ihr Mann anfing, das Grips-Theater berühmt zu machen und in der Wohnung die Redaktion der „Sozialistischen Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft“installierte, machte sie ihr Examen nach, wurde Referendarin, engagierte sich in der „Roten Zelle Jura“. Sie stürmte die Druckerei des „Tagesspiegel“ wegen der Berichterstattung über Vietnam, was ihr ein Strafverfahren einbrachte. Leute wie die Juristen Otto Schily, Christian Ströbele, Horst Mahler wurden zu Weggefährten.

Wer in diesen Kreisen unterwegs war, bewegte sich an der Nahtstelle der Unterstützung für die Rote Armee Fraktion. „Es gab jedoch einen Moment, der wurde zur Grenze“, sagt Ulrike Zecher. Sie nahm an einem konspirativen Treffen mit zwei führenden Köpfen der RAF teil. Die beiden Personen, deren Namen sie nicht nennen möchte, zogen beim Hinsetzen mit lässiger Geste ihre Pistolen aus dem Hosenbund und legten sie auf den Tisch. „Das war der Moment, in dem es bei mir Klick gemacht hat“, sagt Ulrike Zecher heute. Nach einer kleinen Schockstarre stand sie auf und verließ wortlos die Wohnung.

So trennten sich dann Lebenswege. Aus der Kommunistischen Partei trat Ulrike Zecher aus, „weil ich erkannt hatte, dass es der völlig falsche Weg war“. Das Anwaltskollektiv, in dem sie seit Mitte der 70er Jahre arbeitete, verließ sie und machte eine eigene Kanzlei auf. Aber es blieben auch sehr feste Verbindungen.

Die wichtigste Freundschaft ihres Lebens verband sie sicher mit Wolfgang Kolneder, auch wenn ihre Ehe in den 80er Jahren geschieden wurde. Der Juristerei blieb sie immer treu. Bis heute.

Es sind harte Fälle, die sie vor Gericht bestritten hat. In einem sehr wichtigen war sie nicht Verteidigerin, sondern stand der Kronzeugin bei: Für den so genannten Ehrenmord an Hatun Sürücü standen deren drei Brüder vor Gericht. Die kaltblütige Tötung der jungen Deutschtürkin durch einen Schuss ins Gesicht mitten auf der Straße hatte ganz Berlin erschüttert. Zeugin der Anklage war ein 18-jähriges Mädchen, die Freundin des Hauptverdächtigen. Sie wurde vor Gericht bedroht, beschimpft - und von Zecher begleitet wie von einer stählernen Beschützerin. Spricht man sie darauf an, wird sie wortkarg. Noch immer lebt die junge Frau im Zeugenschutzprogramm.

Die Alb fehlt ihr

Politisches Engagement blieb eine Konstante. Und zu den allerschönsten Dingen, die Ulrike Zecher damit verbinden kann, gehört der gemeinsame Weg mit ihrer Mutter: Während die Tochter Gründungsmitglied der Alternativen Liste wurde, engagierte sich die Mutter bei den Grünen in Baden-Württemberg. Irmgard Zecher, langjährige Landesvorsitzende, galt als Seele der Partei. Und wie redet man mit der Mutter, wenn sie aus Metzingen in Berlin anruft, über Politik und alles andere? „Schwäbisch natürlich, wie sonst?“

Wie definiert sie heute Heimat? „Berlin“, sagt sie, „ich lebe hier viel länger, ich liebe diese Stadt.“ Natürlich denkt sie mit einem Wehmutsziehen an ihre Erinnerungen – ob das nun der Duft nach Leder aus Opas Schuhmacherwerkstatt ist oder die Alb. Sie fehlt ihr, mit ihrer Weite, mit ihrer Schroffheit, mit dem Licht. „Immer, wenn ich da bin, muss ich unbedingt wandern“.

Aber trotz allem bleibt ihre eine Gefühlsgewissheit, die sich vor vielen Jahren auf dem Rückflug von einem Klassentreffen nach Berlin einstellte: Der Flieger ging in die richtige Richtung.