Die alten Häuser in der Zuffenhausener Keltersiedlung sollen abgerissen werden. Viele Bewohner sind bereits ausgezogen. Ein Besuch bei denen, die noch nicht weichen wollen

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Stuttgart-Zuffenhausen, Keltersiedlung. Zwei Häuserblocks entfernt fahren die Straßenbahnlinien U 7 und U 15 zum Hauptbahnhof, in zwölf Minuten ist man mitten in der Großstadt. Hier jedoch ist es grün und ruhig. Gerda Merker, 65, stellt eine Tasse frisch gebrühten Kaffee auf den Tisch in ihrem Garten. Es ist Freitagnachmittag. Merker beantwortet die Frage, ob sie am nächsten Tag Zeit für ein Gespräch über die Geschehnisse des vergangenen Jahres habe, mit einer Einladung: „Wollen Sie einen Kaffee mit mir trinken?“

 

Zum Getränk stellt sie einen Zuckerstreuer der Marke Tupper. Mit den Produkten der Firma hat sie vor vielen Jahren gehandelt. „Das war einmal“, sagt die Rentnerin und winkt ab. Aber ein paar der Teile sind eben noch übrig geblieben. Sie lagern nun in ihrem Keller. Und der muss leer werden.

Deshalb ist der Samstag im Moment auch kein guter Tag, um sich mit ihr zu verabreden. Samstag ist Flohmarkttag. Das große Räumen hat begonnen. Nicht nur in Gerda Merkers Keller. Die einen tun es still, andere etwas lauter. Eine ganze Siedlung ist im Aufbruch – und seit März vergangenen Jahres auch in Aufruhr.

Damals wurde bekannt, dass die Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft (SWSG) die Siedlung aus den 1930er Jahren abreißen will, um hier in verdichteter Form neue Wohnhäuser zu bauen. Dort, wo jetzt noch 105 Wohnungen luftig über meist zweistöckige Häuser verteilt stehen, umgeben von Gärten und hohen Bäumen, sollen neue Wohnblocks mit 180 Wohnungen gebaut werden. Immer wieder wird das Jahr 2019 als Baubeginn genannt. „Sobald die Wohnungen leer stehen, reißt die SWSG die Gebäude ab“, sagt Peter Schwab, der Pressesprecher der Baugesellschaft. „Je früher, je besser.“ Das sehen nicht alle so: Manche Bewohner leben hier seit Kindertagen – und harren bis heute aus.

Für manche ist es der Verlust der Heimat

Ende letzten Jahres ist Markus Reinhardt gestorben, fast 70 Jahre hat er in der Keltersiedlung gewohnt. 1946 ist der Spross einer Sinti-Familie mit seinen Eltern hier als Säugling eingezogen. Zuletzt war er so etwas wie das Bindeglied zu einer anderen Zeit. Geplant haben die Siedlung die Nationalsozialisten, gebaut wurde sie in zwei Abschnitten vor dem Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach. Für die Reinhardts war das Leben dort der Neubeginn in Frieden, nachdem sie das Arbeitslager der Nazis überlebt hatten. „Für meinen Vater war es ein schlimmer Gedanke, wegziehen zu müssen“, sagt seine Tochter Gitta Gentner. Sie ist hier mit ihrem Bruder aufgewachsen, wohnt mit ihrer Familie außerhalb der Siedlung, aber ganz in der Nähe, damit sie sich um die Eltern kümmern konnte. Sie war da, wenn es dem Vater schlecht ging.

Als Markus Reinhardt von dem bevorstehenden Auszug und Abriss gehört hat, habe das Familienoberhaupt gesagt, er werde hier nur tot ausziehen, erinnern sich seine Frau Elke und seine Tochter Gitta mit Tränen in den Augen. Es ist so gekommen. Nun sitzen sie in ihrem Garten und wissen nicht, wie lange sie hier noch zusammensitzen können. „Wir hängen völlig in der Luft“, sagt Elke Reinhardt. Den Gedanken an einen Abschied wollen sie nicht zu Ende denken. Elke Reinhardt wird demnächst 70 Jahre alt und wohnt seit fast einem halben Jahrhundert hier. Der Zusammenhalt der Familie ist ihr wichtig, der Sohn, die Schwiegertochter und die Enkel wohnen Wand an Wand mit ihr. Die Reinhardts wollen nicht in alle Winde zerstreut wohnen.

Bestand sichern oder neuen Wohnraum schaffen?

Die SWSG hat ihren Mietern versprochen, ihnen gleichwertige Wohnungen anzubieten. Der Gemeinderat und der Bezirksbeirat begrüßen das Bauvorhaben mehrheitlich. Mehr Wohnungen in Zeiten der Wohnungsnot zu schaffen, das klingt verlockend und vernünftig zugleich. Wer will da schon gegenhalten und weiter die Frage stellen: Sollen hier nicht auch Menschen verdrängt werden, die man früher einmal und heute politisch unkorrekt „die kleinen Leute“ genannt hat? Von der „Verbesserung der Mieterstruktur“ ist in einem internen Schreiben der SWSG die Rede gewesen.

„Die wollen das Klientel, das hier wohnt, nicht mehr haben“, sagt Elke Reinhardt. Susanne Bödecker von der Mieterinitiative sagt, dass „die Menschen hier langsam zu Einzelkämpfern werden und ihre Notlage für ihr individuelles Versagen halten“. Insofern steht die Zuffenhausener Keltersiedlung für den Zielkonflikt, vor dem aktuell alle Städte stehen: Bestand sichern oder neuen Wohnraum schaffen?

Den Menschen, die davon betroffen sind, helfen theoretische Grundsatz- und allgemeingesellschaftliche Gerechtigkeitsüberlegungen nicht weiter. Sie machen sich Sorgen um ihre Zukunft. „Meine Eltern haben immer pünktlich ihre Miete gezahlt und sich nichts zuschulden kommen lassen“, sagt Gitta Gentner. Unterstützt werden die verbliebenen Mieter von der Mieterinitiative. Susanne Bödecker, die für die Linke/SÖS-plus im Bezirksbeirat sitzt, sagt: „Wir wollen den Menschen den Rücken stärken.“

Das Durchhalten ist nicht gerade leicht und geht mit der Sorge einher, dann vielleicht keine Wohnung mehr zu bekommen. Aber vor etwas mehr als einem Jahr ist aus der Mieterin Gerda Merker, die mit Demonstrieren in ihrem Leben bisher nicht viel am Hut hatte, eine Unterschriftensammlerin gegen den Abriss geworden. Sie hat für den Mieterbeirat der SWSG kandidiert, mit den anderen Bewohnern demonstriert, ist einmal quer durch den Ort gelaufen – von der Wimpfener Straße in Stammheim über den Kelterplatz bis in die Keltersiedlung. Die Polizei hatte die Durchfahrtsstraßen für die Demonstranten gesperrt, und Gerda Merker hielt bei der Kundgebung eine Rede.

Bisher 60 Wohnungsangebote von der SWSG

Auf die Straße sind damals Menschen gegangen, die ihr Lebensgefühl nicht hinter ausschweifenden Formulierungen verbergen, sondern wie Gerda Merker kurz und knapp sagen: „Jeder hat Angst.“ Peter Schwab von der SWSG hält dem entgegen, dass „die meisten Mieter den Umzug als Verbesserungschance sehen“. Laut aktuellen Zahlen der SWSG stehen 36 Wohnungen bereits leer, drei Mietpartien ziehen demnächst aus. 60 Mieter haben laut Schwab Wohnungsangebote bekommen – in Stuttgart-Rot, -Ost, -Feuerbach oder -Giebel.

Es ist ein Leben auf Abruf, das die Menschen unterschiedlich stark zermürbt. „Es ist ein Gefühl großer Bedrückung spürbar“, sagt Susanne Bödecker. Bei der letzten Mieterversammlung hat sich ein kleines Grüppchen Übriggebliebener und Engagierter getroffen – und hat zusammen gegrillt. Die Kräfte schwinden allmählich.

Jeder arrangiert sich mit der Situation auf seine Weise. In den Fenstern und an den Türen hängen noch immer Plakate, auf denen Sätze wie „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ oder „Kein Abriss, wir bleiben hier“ steht. Fast hat es den Eindruck, je mehr sich die Siedlung leert, desto mehr Plakate hängen als trotzige Geste des Ausharrens und des vergeblichen Widerstands. „Ich kann es ja nicht ändern, wenn immer mehr gehen“, sagt Gerda Merker. „Wer weiß, vielleicht sitzen wir am Schluss alleine da.“ Die, die wegziehen, melden sich nicht ab, sagt Susanne Bödecker. Gerda Merker und ihr Mann haben ein Angebot bekommen: eine Zweizimmerwohnung mit Balkon. Das Angebot kommt für sie nicht infrage. Drei Zimmer im Erdgeschoss sollen es schon sein.

105 Neuanfänge an neuem Ort

105 Wohnungen, das sind ebenso viele Lebens- und Familiengeschichten. Und noch einmal so viele Wege, mit dem drohenden Umzug zu fertig zu werden, den viele als Verlust ihrer Heimat und gewachsener Strukturen empfinden. Das heißt Neuanfang an einem anderen Ort. „Ob das mit der Verwurzelung gelingen wird, weiß ich noch nicht“, sagt Horst Hölz, 74. Auch er steht in seinem – bei ihm muss man sagen: ehemaligen – Garten. Hölz hat den Gedanken, Abschied zu nehmen, zu Ende gedacht: Seit Mai ist er fort. Zwei Zimmer mit Balkon in Stuttgart-Mönchfeld sind seine neue Heimat. Er war einer der laut Protestierenden – aber das hat ihm zunehmend den Schlaf geraubt und ging an die Kräfte. Sein mazedonischer Freund Risto hat ihm zum Wegzug geraten, obwohl die beiden ein eingeübtes Spaziergängerteam waren: Hölz hat geredet und Risto zugehört. Vor 40 Jahren ist Risto nach Deutschland gekommen, wie alle seiner Generation, um bald zurückzugehen. Seit 1986 wohnt er hier. Und jetzt? Mit dem Begriff Heimat tue er sich schwer, sagt der stille, nachdenkliche Mann. „Heimat ist da, wo man sein Brot verdient.“ Der 69-Jährige zuckt mit den Schultern, wenn er sagen soll, wie es wohl weitergeht. Er dreht seine Runden jetzt alleine – und wartet ab.

„Ich werde jedes Jahr älter“, sagt Horst Hölz und zieht unter einem Efeubusch eine wasserdichte Mehrfachsteckdose hervor, die er in Mönchfeld wieder zum Einsatz bringen will. Dort, im Garten vor seinem Balkon, blühen schon die Sonnenblumen – ein erster Test für die Qualität der Erde dort. Seinen Vorgarten in der Keltersiedlung hatte er in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten in eine Gartenlandschaft mit kleinem Teich, Rosen, Rasen, Sitzecke mit Mosaiksteinen auf dem Boden verwandelt. „Ich weiß mit 74 Jahren einfach nicht, ob ich mit 75 auch noch mit meinem Fahrrad am Neckar entlangradeln kann.“ Soll heißen: Umzug und Einleben kosten Kraft. Das muss man früh angehen.

Jetzt wohnt er nicht mehr unterm Dach, sondern im Erdgeschoss – und wickelt seinen alten Garten ab. Sein ehemaliger Mitbewohner Guido Metzinger, 54, mäht den Rasen. Metzinger pflegt seit 2012 seine demente 94-jährige Mutter. An Umzug kann und mag er nicht denken. Die Tomaten und die Erdbeeren hat dieses Jahr Joachim Ebner gepflanzt, der Nachbar aus der Wohnung gegenüber. Freundschaft verpflichtet.