Der Niedergang der Piraten verlief fast so schnell wie ihr Aufstieg. Längst wird die Partei nur noch unter „Sonstige“ geführt. Doch es gibt ein paar Unverzagte, die an ein Comeback glauben – auch in Stuttgart.

Stuttgart - In der Stöckachstraße 53 liegt ein Hafen der Piraten. Hier, im Stuttgarter Osten, hängen ein paar ihrer Plakate an den Laternenpfosten: schwarze Flagge auf Knallorange. Wer vorbeigeht, wird daran erinnert, dass es diese Partei ja auch noch gibt.

 

In der Landesgeschäftsstelle treffen sich jeden Montagabend die örtlichen Piraten, dieses Mal sitzen acht Leute an dem grauen Konferenztisch. Das sind weniger als sonst, aber ein paar Piraten schalten sich via Chatprogramm von zu Hause aus zu. Auf dem Tisch stehen Mate-Flaschen, an der Wand hängen alte Wahlplakate. „Volksentscheide braucht das Land“, steht auf einem. Auf den Stühlen: ein Mathematiker, ein Informatiker, ein Student, ein Mechatroniker, eine Datenschützerin. Manche tragen Anzug, andere T-Shirts, einer hat sich die Haare blau gefärbt. Auf den ersten Blick ist alles ganz so, wie man das aus den Zeitungsberichten von vor ein paar Jahren kennt. Computeraffine Leute, Nerds, die in ihre Laptops starren und die Sitzungen per Livestream in die Welt senden – auch wenn kaum jemand zuguckt. „Wir sind nicht tot“, sagt einer. „Solange es in der Politik so viel Intransparenz gibt und so wenig Bürgerbeteiligung, wird es uns auch weiter geben“, sagt jemand anderes. „Wenn wir nicht weitermachen, rauschen wir in einen Überwachungsstaat.“

Im Mai sind die Piraten in Nordrhein-Westfalen aus dem letzten Landesparlament geflogen, in dem sie noch vertreten waren. In den Zeitungen und im Netz las man vom Ende einer Partei oder von einem gescheiterten Experiment. „Danke für die Störung, Piraten“, schrieb das „SZ-Magazin“. „Das Abenteuer ist vorbei“, bilanzierte die „Zeit“. Und die linksalternative taz titelte: „Klarmachen zum Kentern.“

Querelen und Peinlichkeiten

Mehr als zehn Jahre nach ihrer Gründung stehen die Piraten in Umfragen irgendwo zwischen nicht messbar und zweieinhalb Prozent. Die Zeiten, in denen die Partei in Deutschland auf elf oder zwölf Prozent kam, sind lange vorbei, heute verschwinden sie zusammen mit anderen kleinen Parteien hinter dem Begriff „Sonstige“. Von den einst 35 000 Parteimitgliedern bundesweit sind noch 11 000 übrig, in Baden-Württemberg sind es auf dem Papier 778. Die Partei hat es im Südwesten ohnehin schwer, selbst zu den Hochzeiten kam sie nur auf etwas mehr als zwei Prozent der Wählerstimmen, bei den letzten Landtagswahlen waren es noch 0,41 Prozent. In der Stuttgarter Landesgeschäftsstelle spricht dennoch niemand vom Untergang. Hier wird an einem Comeback gebastelt, für den anstehenden Wahlkampf rüsten sich die Piraten für einen neuen Angriff – es soll auch nicht der letzte sein.

Fragt man, was schiefgelaufen ist in der Partei, werden viele Fehler aufgezählt: ständiger Zank, schnell wechselndes Spitzenpersonal und skandalträchtige Veröffentlichungen, etwa von der nordrhein-westfälischen Abgeordneten Birgit Rydlewski, die via Twitter über ihren ungeschützten Sex und einen anschließenden HIV-Test berichtete. Wer nach all diesen Querelen und Peinlichkeiten noch immer dabei sei, sagt einer am Konferenztisch, der meine es wirklich ernst, dem gehe es um die Sache.

„Wir haben uns verändert“, sagt die Spitzenkandidatin Anja Hirschel, und dass sich die Piraten endlich gefunden hätten. Da, wo Hirschel herkommt, aus einem schwäbischen Dorf, gab es eigentlich nur die CDU, aber als sie fürs Informatikstudium nach Ulm ging, landete sie an einem Piraten-Stammtisch. „Bei uns gibt es viele verschiedene Meinungen, und alle werden diskutiert“, sagt sie.

Anja Hirschel bezeichnet sich als Pragmatikerin, sie steht für den Wandel der Piraten: Vor zwei Jahren, als sie in Ulm für das Bürgermeisteramt kandidierte, trug sie noch ein, kurzes Tüllkleid mit Rosen-Print, heute ist es ein schlichtes Shirt unter einem dunklen Jackett. Sie wirkt nun seriöser. Für den Bundestagswahlkampf hat sie ihren Job bei einem Software-Konzern auf 50 Prozent runtergefahren. Würde die Partei ihren Namen ändern oder ganz neu starten, würden die Piraten sich selbst verkaufen, sagt sie. „Wir sind so ehrlich, dass wir zugeben, dass viele Fehler passiert sind. Aber wir stehen trotzdem zu der Partei.“

Hat sich die Partei selbst überflüssig gemacht?

In der Geschäftsstelle im Stuttgarter Osten haben die Mitglieder ein Piraten-Pad angelegt, ein Dokument, an dem mehrere Leute über das Internet gleichzeitig arbeiten können. So ähnlich wie Google Docs, nur dass hier kein Großkonzern die Daten abgreift. „In Stuttgart sind die Piraten relativ gleichstark geblieben“, sagt Philipp Köngeter, 33, Mechatroniker und Landesvorsitzender der Partei. „Das Problem ist, dass keiner mitbekommt, dass es uns überhaupt noch gibt.“ Immerhin, acht Piraten sitzen in den Bezirksräten, einer im Gemeinderat. Statt über die große Netzpolitik reden sie über das Tanzverbot am Karfreitag, setzen sich für mehr WLAN ein, für Kitaplätze, sozialen Wohnungsbau, für fahrscheinlosen Nahverkehr und für die Legalisierung von Cannabis. „Irgendjemand hat mal gesagt, dass wir das Beste von Grünen, FDP und der Linken vereinen“, sagt Uwe Mayer, der Mann mit den blau gefärbten Haaren. Volksnahe Slogans wie „Stau nervt“ und „Kitaplatz ums Eck“ soll auf den Wahlkampfplakaten stehen, mit denen die Piraten sich zum Feierabendverkehr an den verstopften Stuttgarter Straßen aufstellen wollen. Sie hätten gelernt, dass man den Leuten „nicht einfach irgendwelche Spezialthemen vor den Latz knallen kann“, sagt Anja Hirschel. Jetzt versuchen sie, ihre Botschaften einfacher zu formulieren, nicht nur für Computernerds und Datenspezialisten.

Früher haben die Piraten selbstbewusst von sich behauptet: Wir sind nicht links, wir sind nicht rechts, wir sind vorne! So formuliert das inzwischen keiner mehr, vielleicht weil es weniger nach einem klaren Kurs, sondern eher nach Orientierungslosigkeit klingt. Fragt man Anja Hirschel, wofür die Piraten heute stehen, redet die Spitzenkandidatin über flache Hierarchien, Politik von unten, darüber, dass Entscheidungen gemeinsam getroffen werden. „Wir stehen vor allem für eine andere Art, Politik zu machen“, sagt sie. „Klar, wir haben viel Expertise in der IT und beim Thema Datenschutz, aber der digitale Wandel betrifft ja ganz viele Bereiche.“

Ein paar Tage später sitzt Anja Hirschel im Alten Feuerwehrhaus im Stuttgarter Süden, in einer Stunde beginnt hier eine Informationsveranstaltung der Piraten zum bedingungslosen Grundeinkommen, zu der auch ihr Parteikollege und Spitzenkandidat für die Bundestagswahl, Sebastian Alscher, aus Frankfurt gekommen ist. „Wir haben schon immer auf verschiedene Inhalte gesetzt, hatten eine extrem starke Fachkompetenz – und wir haben es geschafft, dass viele sich von den größeren Parteien mit Themen wie Netzpolitik oder Datenschutz beschäftigen“, sagt Alscher, der sich vor allem um Finanz- und Innenpolitik kümmert.

Das Geld ist knapp

Man könnte sagen, dass Frank Schirrmacher recht behalten sollte, als er 2009 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schrieb, dass die Piraten nicht Partikularinteressen vertreten, sondern einen revolutionären Wandel der Gesellschaft aufgreifen würden. Und dass sie mit ihren Fragen aus der digitalen Welt die anderen Parteien verändern werden. Man könnte auch sagen, dass die Piraten sich selbst überflüssig gemacht haben, schließlich hat auch die CDU irgendwann einen Arbeitskreis Netzpolitik gegründet.

Viele Fraktionsmitglieder in den Landesparlamenten und Piraten in Gemeinderäten haben sich einen guten Ruf erarbeitet, galten als akribisch, fleißig, kritisch, schrieben Antrag um Antrag und zwangen die Politik dazu, Themen wie Datenschutz und Transparenz nicht außer Acht zu lassen. Zugeschrieben wurde das den Piraten nur selten, jedenfalls nicht von der Öffentlichkeit, die bekam neben all den Streitereien und Fehden davon nur wenig mit. Inzwischen sind viele Piraten in andere Parteien gewechselt. Diejenigen, die geblieben sind, verfolgen noch immer dieselben Ziele, wollen aber weg vom Image der Protestpartei.

Anja Hirschel und Sebastian Alscher stehen für diesen Weg. Alscher, der langjährige Investmentbanker, der mittlerweile aus dieser Branche ausgestiegen und vor zwei Jahren in die Piratenpartei eingetreten ist, trägt ein rot-weiß gestreiftes Hemd, Jeans, eine schwarze Brille und blättert in einem „Manager-Magazin“. „Bei uns ist es in Ordnung, Regenbogenfarbenhaare zu haben, aber es ist kein Muss“, sagt er.

Die Piraten haben heute zwei Festangestellte und kaum Mittel für den Bundestagswahlkampf oder für die außerparlamentarische Arbeit. Man könnte es als puren Trotz interpretieren, wenn Anja Hirschel sagt, dass sie im September auf ein gutes Ergebnis setzt. Man könnte auch sagen, sie sei naiv. Doch wer Anja Hirschel reden hört, der merkt, dass sie von ihrer Partei vollkommen überzeugt ist. „Vielleicht ist die Gesellschaft noch nicht bereit für uns, aber wir sind die Zukunft“, sagt sie, „und wir haben einen langen Atem.“