Der Ministerpräsident und sein bayerischer Kollege Horst Seehofer treffen sich an einem geheimen Ort. Was geht da vor?

Berlin/Stuttgart/München - Winfried Kretschmann spürte kaum das Wasser über seine Hände rinnen, so sehr konzentrierte er sich darauf, nicht in den Spiegel über dem Waschbecken zu blicken. Sorgsam spülte er die Seife ab, wobei er in gebückter Haltung verharrte, was er gar nicht mehr gewohnt war. Ministerpräsidenten stehen aufrecht und wirken entschlossen, dachte Kretschmann. Doch er traute sich nicht einmal mehr, in einen harmlosen Spiegel zu schauen. So weit war es mit ihm gekommen.

 

„Bandscheibe?“ Horst Seehofer betrat die Toilette im alten Preußischen Herrenhaus, dem Sitz des Bundesrats. Sein schadenfrohes Grinsen zog sich vom linken bis zum rechten Ohrlappen und überbrückte somit eine beachtliche Strecke, die von starken Zahnmonumenten gesäumt wurde. Sie wären ohne weiteres geeignet gewesen, den in Flora wie Fauna bewanderten Stuttgarter Regierungschef an ein Wolfsgebiss zu erinnern, doch Kretschmann verblieb tief über das Waschbecken gebeugt. Seehofer machte sich im Nebenraum an einem Urinal zu schaffen, Kretschmann wartete auf ein lustiges Platschen, lebhaft und kraftstrotzend wie ein bayerischer Gebirgsbach. Doch es blieb still. Langsam richtete Kretschmann sich auf, die Augen geschlossen. Als er sie endlich öffnete, da sah er im Spiegel – Angela Merkel. Schon wieder Angela Merkel. Immer wieder Angela Merkel. Er war Winfried Kretschmann, doch jeder Spiegel, von dem er nicht rechtzeitig den Blick abwandte, wollte ihm weismachen, er sei Angela Merkel. Kretschmann erkannte: er steckte in einer Identitätskrise. Hatte er zu viel für die Kanzlerin gebetet?

Hatte Kretschmann zu viel für die Kanzlerin gebetet?

„Ja mei, die Angela“, sagte Seehofer, nachdem er erleichtert dem Urinal entronnen und zu seinem Kollegen an den Waschtisch getreten war. Kretschmann seufzte. „Immer wenn ich in einen Spiegel schaue, lächelt mir die Kanzlerin zu“, berichtete er. „Mit Raute oder ohne“, wollte Seehofer wissen. „Meistens mit, manchmal ohne“, versetzte Kretschmann. „Das hängt von der Größe des jeweiligen Spiegels ab, also vom Bildausschnitt.“

„Ja mei, die Angela“, wiederholte Seehofer und verweilte in Gedanken bei dem Wort „Ausschnitt“. Hatte er die Kanzlerin jemals in einem Dirndl gesehen? „Wer sich mit der Angela einlässt, verliert sich selbst“, sinnierte er dann. „Deshalb hält die CSU ja auch Abstand.“ Was man vom Kollegen Kretschmann und seinen Halbhöhengrünen in Dingsbums, zefix, wie heißt das doch? Stuttgart, genau, danke, nicht sagen könne. Kretschmann blickte traurig in den Spiegel über dem Waschbecken, Angela lächelte freundlich, geradezu mädchenhaft zurück. „Wegen dem bin ich nicht Bundespräsident geworden“, raunte Kretschmann ihr zu. „Sei nicht traurig“, antwortete Angela. „Ist besser so für dich.“„Weißt Du“, setzte Seehofer neu an, „mir geschehen vor dem Spiegel manchmal auch wunderliche Dinge. „Ja?“ Dieses Geständnis interessierte Kretschmann. „Ja“, wiederholte Seehofer. Gelegentlich, leider eher selten, grüße Franz-Josef Strauß aus dem Spiegel, sehr viel häufiger aber dieser Gottseibeiuns Markus Söder. „Du weißt schon, das ist der, der immer hinter mir her schmutzelt und meinen Kopf am liebsten aufgespießt auf einer Lanze über den Nürnberger Christkindlesmarkt tragen würde.“ Kretschmann nickte indigniert. Söder, ja, von dem hatte er gehört. Einen solchen gab es bei seinen Gemüsemaultaschen-Grünen nicht. Oder hatte er die Gefahr nur noch nicht bemerkt?

Einen Markus Söder gab es bei den Gemüsemaultaschen-Grünen nicht

Meistens aber, fuhr Seehofer fort, erkenne er im Spiegel: Nichts! Jedenfalls nichts aus Fleisch und Blut. Kretschmanns Augen weiteten sich. „Nichts?“ – „Nichts“, bestätigte Seehofer. „Als wäre ich nicht vorhanden – ein Gespenst.“ Kretschmann schauderte. Hatte Angela nicht schon immer gesagt, Seehofer sei ein Untoter? Sie hatte mal wieder Recht behalten. „Ich komme gleich“, rief er Seehofer nach, als dieser zurück in den Plenarsaal des Bundesrats strebte. Dann wandte sich Kretschmann erneut dem Spiegel zu und wisperte: „Angela, ich muss Dir was erzählen.“