Der Fußball, in seinen Anfängen einmal eine exklusive Sache, ist jetzt wieder eine gigantische Geldmaschine mit lauter Superreichen, auf dem Rasen und in der Loge, unbezahlbar für viele. Für Romantiker bleiben letzte Zufluchtsorte: das alte Stadion der Löwen oder die Spiele der Kickers unterm Fernsehturm.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Ohne ein gewisses Maß an, sagen wir, Romantisiererei ist der Sport ganz allgemein – früher mal schönste Nebensache, heute integraler Bestandteil der Warenwelt – nicht zu haben: eine Tendenz, die auch vor scharfsinnigem Denken nicht haltmacht.

 

Im Jahr 1976 zum Beispiel schreibt der schwedische Philosoph und Lyriker Lars Gustafsson eine Erzählung unter dem Titel „Die Tennisspieler“, die auch „Die Fußballspieler“ heißen könnte – es geht um die Idee, dass ein Ballspiel uns enthebt. Gustafsson hatte mehrmals als Dozent Sommersemester in Austin, Texas, verbracht und dort in der Früh, bevor die Gluthitze kam, gerne gespielt. Richtig gut sogar. Immer dabei, wenn es zum Doppel kommt, ist im Buch ein Mann namens Abel, ein Antizipationswunder. Später erweist sich, dass er einmal die Australian Open gewonnen hat und Zweiter in Wimbledon war. Er spielt aber nur noch in diesem leicht verwahrlosten Park, mit Leuten, die ihm kaum das Wasser reichen können. „Weil es mehr Spaß macht“, wie Abel sagt.

Klar ist, dass es einen wie Abel in dieser Form nie gegeben hat. Aber klar ist eben auch: Lars Gustafsson idealisiert in dieser Person literarisch nur kunstvoll, was die meisten Menschen – selber Sportler oder nicht – mit der Ebene des Sports verbinden, hierzulande vor allem beim organisierten Fußball. Den meisten ist er ein Riesenprojektionsraum in dem, wertfrei gesagt, Emotionsinvestitionen aller Arten möglich sind. Der Kanalisierung von Spaß, Wut, Treue, Hass und Liebe, um nur einige Parameter zu nennen (Freude an der Anschauung gehört noch dazu, Fanatismus auch), kommt dabei gesamtgesellschaftlich eine immer größere Bedeutung zu, wenn man auf die Umsatzzahlen schaut.

Der Markt wird angeführt von der britischen Premier League. Allein im Sommer dieses Jahres werden die Vereine dort bis zum Ende der Transferzeit mehr als eine Milliarde Euro ausgegeben haben für neue Spieler. Die Nachfrage nach „Live“-Erlebnissen durch das Fernsehen macht’s möglich (in die durchvermieteten Logen-Stadien kommen, gerade in England, die Massen meist nicht mehr), derweil der Brasilianer Neymar für sagenhafte 222 Millionen Euro Barcelona verlassen hat, um bei Paris Saint-Germain anzuheuern, dem von einem katarischen Scheich beherrschten Club.

Wer erwartet hatte, die französische Presse, ungleich stärker Teil des Gesamtsystems als hierzulande, würde zumindest am Anfang eine gewisse Restdistanz aufbringen, sah sich getäuscht: Den ersten Auswärtserfolg der Pariser mit Neymar (ein Tor) in Guingamp in der Bretagne (3:0) kommentierte „L’Équipe“, Frankreichs große Sportzeitung, mit Unterwerfungsüberschriften und Ergebenheitsadressen: „Au cœur du jeu“ (Im Herzen des Spiels) – und so fort. Regisseur und Seele: von der obszönen Ablösesumme keine Rede mehr.

Das war die Uns-Uwe-Seeler-Mentalität.

Wie dramatisch sich in dieser Hinsicht die Verhältnisse im weiterhin boomenden Fußballgeschäft in den vergangenen Jahrzehnten geändert haben, mag ein erneuter Blick auf das Jahr 1976 zeigen: Damals wechselte der belgische Fußballspieler Roger van Gool vom FC Brügge zum 1. FC Köln. Ein kleines Bier kostete seinerzeit, nur zum Vergleich, 80 Pfennig, eine Packung Zigaretten zwei Mark. Bier und Zigaretten (und Bratwürste) sind ja in den Stadien so etwas wie Leitwährungen.

Van Gools Wert entsprach also über eine Million Biere, nämlich genau eine Million Mark. Eine Million war damals noch ein Mythos – und das Gerede über den Van-Gool-Transfer wurde entsprechend laut und erregt geführt. Heute werden durchschnittlich begabte Zweitligaspieler auf dieser Ebene verrechnet, hingegen lösen große, ja gigantische Euromillionenablösen nur noch sehr selten überhaupt eine Anfangsdiskussion aus.

In diesem Zusammenhang ist es vielleicht interessant, dass der Fußball einmal auf einer ziemlich hohen Exklusivitätsstufe angefangen hat, als sich die in Cambridge gleichzeitig betriebenen Running-Game- und Dribbling-Game-Mannschaften schließlich teilten. Die einen spielten, recht derb mit der Hand, weiterhin Rugby, die anderen Fußball: mit weißen Handschuhen und ausdrücklich in dem Bewusstsein, einen Sport zu treiben, der allein dem Gentleman vorbehalten sein sollte. Exzentrik durfte ausgelebt werden.

Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Fußball zum Arbeitersport, was zur Etablierung von Teamarbeit, grundlegender Systematik im Spiel und Unnachgiebigkeit in Sachen Disziplin führte. Eine gewisse Volksverbundenheit zwischen den Akteuren auf dem Platz und den Zuschauern auf der Tribüne verstand sich von selbst: Das war die Uns-Uwe-(Seeler-)Mentalität.

Was die (west-)deutsche Bundesliga betrifft, hat dieser Zustand, zumindest in seiner idealisierten Variante, ziemlich lange angehalten. Als sich dabei die Kriegsgeneration, die noch mit Fritz Walter und dem „Elf Freunde müsst ihr sein“-Mantra von Samy Drechsel sozialisiert worden war, von den Rängen in den Stadien verabschiedete, wo es immer lauter und gewalttätiger wurde, rückte eine neue Generation nach: Sie erwartete nicht nur ein unter ästhetischen Gesichtspunkten schöneres Spiel, als man in den 1970er Jahren gemeinhin geboten bekam, sondern wollte sich auch ideologisch gerne an einer Differenz festmachen, die es gar nicht gab.

Einer der im Nachhinein gesehen größten Irrtümer in der deutschen Fußballhistorie betrifft zwei Gestalten, die, hochangesehen, ihr – linkes – Außenseiter- beziehungsweise Rebellentum pflegten: Günter Netzer, später Fernsehrechtegroßhändler der effizientesten Prägung, ging dann aber, wie Paul Breitner später, zu dem Club, der damals in Europa am meisten zahlte: Real Madrid, zu dieser Zeit noch General Francos faschistische Fußballhochburg in Spanien. Breitner, danach für knapp zwei Millionen Mark ausgelöst vom ersten richtigen Privatsponsor hierzulande (Günter „Jägermeister“ Mast in Braunschweig), heißt heute willfährig jeden Bayern-Transfer willkommen, den der wiedererstarkte Patriarch Uli Hoeneß als „Erfolg der Bayern-Familie“ verkauft. Eine zweifellos häufig Schein-Identität stiftende Bande, die es aber nur auf dem Strategie-Papier gibt.

In der Münchner Arena hat sich vorbildhaft vollzogen, was den ausgewählten Stadionfußball der Zukunft prägen wird: Die Milieus sind strikt voneinander abgeschottet und die althergebrachten Fans (auch und gerade in ihrer Funktion als Ultras) nur noch als Stimmung generierender Faktor zugelassen. Wie einst in der Oper die Geschäfte gemacht wurden, dient der Fußball dort jetzt häufig als Hintergrundkulisse und Dekoration. Entsprechend hat er sich auch inhaltlich gewandelt.

Das Glück in der vierten Liga

Dem ästhetischen Wert gehört, bis hin zum Maßanzug des Trainers an der Linie, stets höchste Aufmerksamkeit. Mit dieser Strategie und dem entsprechenden Personal werden „neue Märkte erschlossen“, vorderhand im asiatischen Raum, wo der FC Bayern Teile seines heurigen Saisontrainingslagers absolviert hat. Die meisten Menschen, die im Fernen Osten Schlange gestanden haben, werden nie wissen, dass die bayerischen Berge nicht direkt hinter der Arena anfangen und höchstwahrscheinlich kaum je an diesem Ort auf Trikotfühlung gehen können. Das gelingt im Übrigen paradoxerweise sowieso immer weniger Menschen, weil diejenigen, die einer Dauerkarte haben, diese in der Regel so bald nicht mehr hergeben.

Alternativen? Auf den ersten Blick scheint es im Profifußballgeschäft kaum mehr welche zu geben. Auch mit bescheideneren Mitteln funktionieren die Modelle mehr oder minder à la Paris Saint-Germain. Außer es kommt, auf den ersten Blick, zu einem relativen Glücksfall, nämlich dem, dass sich der Sponsor (Hasan Ismaik, Jordanier), der Paris schon im Visier gehabt hatte, bei 1860 München weigert, sein Geld nach dem Abstieg in die dritte Liga zu investieren. Also spielen die Sechzger nun Regionalliga in Bayern, führen, sind glücklich. Glücklich? Tatsächlich hat der Stadtteil Giesing, wo Franz Beckenbauer, das verblasste Idol, aufwuchs, schon lange nicht mehr einen solchen Straßenfasching erlebt wie bei den ersten Heimspielen an der Grünwalder Straße, wohin die Löwen heimkehrten und Einzug hielten wie ins Biotop (obwohl’s ihnen seit 1937 schon nimmer gehört, sondern der Stadt).

Welche Illusion blitzte da auf?

Es war – Stuttgarter-Kickers-Anhänger kennen das Gefühl in modifizierter Form von der Waldau – so ein Moment, der sich demnächst selbst gegen Pipinsried einstellen wird, nämlich: 90 Minuten in etwas Größerem aufzugehen, ohne zu verschwinden oder lediglich als Statist zweckentfremdet zu werden. Und am Ende zog nicht der Markt Bilanz, sondern es wurde Bilanz gezogen: auf dem Marktplatz. Augenwischerei aber leider auch dies: Nichts müssen die Sechzger mehr fürchten, als in der Regionalliga weiter oben zu bleiben, weil sie dann eben in die dritte Liga aufzusteigen hätten – und für die Dritte verbietet sich das gerade mal für 12 500 Zuschauer zugelassene Stadion schon wieder. Ende der Produktdifferenzierung.

Auch das „kleine Glück“, in Giesing oder unterm Fernsehturm, ist also eigentlich nur zu haben, wenn Fußballzuschauer, ausgestattet mit einem letzten Schuss Restromantik, etwas pflegen, was Psychologen als kognitive Dissonanz bezeichnen.

Der Volksmund nennt das: die Welt schönreden. Die Fußballwelt in diesem Fall. Aber das geht eben nur noch zum Teil.