In der Frankfurter Paulskirche hat die Publizistin Carolin Emcke am Sonntag den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegengenommen. Ihre Rede war ein engagiertes Plädoyer für Verständigung und Toleranz.

Frankfurt - Hannah Arendt hätte sich gefreut. Der Geist ihres für Revolutionen offenen politischen Denkens, wie er in ihrer Schrift „Vita Activa“ zum Tragen kommt, schwebte am Sonntag über der Verleihung des diesjährigen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche. Es gibt nicht viele weibliche Vorbilder im philosophischen Diskurs der Moderne – weswegen es kein Wunder war, dass sowohl die Laudatorin als auch die Preisträgerin sich auf die jüdische Philosophin beriefen, die 1933 aus Deutschland vertrieben wurde und nach Amerika auswandern musste.

 

Die Verleihung des mit 25 000 Euro dotierten Friedenspreises ist traditionell der Höhepunkt der Buchmesse. Den Preis vergibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels seit 1950 als einen Beitrag zur Völkerverständigung. In einem Grußwort erinnerte der Vorsteher des Börsenvereins, Heinrich Riethmüller, an die subversive Kraft von Sprache und Literatur – und daran, dass oppositionelle Künstler derzeit etwa in der Türkei oder in Russland „als Erste weggesperrt“ würden, „nicht aus Angst vor ihren Waffen, sondern vor der Macht ihrer Worte“.

Seyla Benhabib, die türkischstämmige amerikanische Politikwissenschaftlerin, bezog sich in ihrer Preisrede gleich mehrfach auf Hannah Arendt, der sie einige Studien gewidmet hat. Und auch die um achtzehn Jahre jüngere Carolin Emcke, die in Frankfurt unter anderem bei Jürgen Habermas Philosophie studiert hat, zitierte die Denkerin, die sich zeit ihres Lebens mit ihrem Lehrer und einstigen Geliebten Martin Heidegger auseinandersetzte. Seiner von der Sterblichkeit determinierten Existenzphilosophie hielt sie eine Philosophie der Natalität entgegen, die die Menschen von ihrer Geburt, ihren Anfängen her in den Blick nimmt.

Ovationen des Publikums

Konnte es da Zufall sein, dass die Journalistin und Publizistin Carolin Emcke ins Zentrum ihrer von sehr viel Zustimmung und Standing Ovations begleiteten Rede das Anfangen stellte? „Wir können immer wieder anfangen“: Das ist das leidenschaftliche Credo einer Intellektuellen, die auch in politisch schwierigen Zeiten, in denen nationalistisches und rechtsextremes Denken wieder salonfähig geworden sind, das Heft des Handelns nicht aus der Hand geben will.

Emcke, die als Journalistin immer wieder von den Krisenregionen und Brandherden dieser Welt berichtet hat und sich als Homosexuelle zu einer lange ausgegrenzten Minderheit zählt, gibt in ihren Texten und Büchern jenen eine Stimme, die durch Gewalt stumm gemacht wurden. Sie plädiert unermüdlich für Verständigung und Dialog. Die Jury des Friedenspreises attestiert ihr „analytische Empathie“ – keine schlechte Beschreibung der für Emckes Schreiben charakteristischen Verbindung von persönlichem Blick und philosophischen Erwägungen.

So hat die wie immer in Schwarz gekleidete, schlanke, hochgewachsene Preisträgerin auch ihre Friedenspreisrede gehalten – eigene Erfahrungen so unangestrengt wie elegant mit allgemeinen Beobachtungen und Appellen verbindend. Mit der ihr eigenen Mischung aus Persönlichem und Politischem, aus Reportage, Reflexion und Literatur zeigte sich die Geehrte wieder einmal als „wirklich große Erzählerin“ – so hatte die Laudatorin Seyla Benhabib sie zuvor in ihrer Rede gewürdigt. Wie sich die subjektive Perspektive ändern kann: All die Jahre hat man die Zeremonie in der Paulskirche von unten betrachtet und nun steht man plötzlich auf dem Podium, und so kann sich auch die gesellschaftliche Blickrichtung ändern, indem „wir alle“ uns gegen Ausgrenzung, Hass und Reinheitswahn wenden, so bezog Emcke auch die Erfahrung dieser Preisverleihung in ihre Rede ein.

Beschwörung eines „universellen Wir“

Die Publizistin erinnerte auch an die Friedenspreisrede 1998, als die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen des Holocaust „zu einer bloßen ‚Moralkeule‘ verstümmelt“ worden sei. Der damalige Preisträger Martin Walser hatte gewarnt, dass Auschwitz zu einer „Moralkeule“ verkomme und die tatsächliche Bedeutung verloren gehe. Diese Aussage wurde heftig kritisiert, unter anderen von Ignatz Bubis, dem damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Sie könne „hier nicht stehen, ohne an diesen nicht nur für Ignatz Bubis furchtbaren Moment zu erinnern“, sagte Emcke.

Die emphatische Beschwörung eines „universellen Wir“ über alle Zugehörigkeit zu einer Nation, einer Religionsgemeinschaft, einer sexuellen Identität hinaus war die von tausend Gästen freudig aufgenommene Sonntagsbotschaft in der Paulskirche: Das Bekenntnis zu Pluralität, zu „unreiner“ Vielfalt mündete in ein unumstößliches Vertrauen in die normative Kraft der Menschenrechte in einer Zivilgesellschaft, die sich ständig neu erfinden muss: „Eine freie, säkulare, demokratische Gesellschaft ist etwas, das wir lernen müssen. Immer wieder (. . .) im wechselseitigen Respekt vor der Vielfalt der Zugehörigkeiten und individuellen Einzigartigkeiten.“ Man wünscht sich, dass solche Plädoyers auch diejenigen erreichen würden, die sich von diesem Modell des Zusammenlebens längst verabschiedet haben. Sie gehörten am Sonntag leider nicht zum Publikum in der Paulskirche.