Eingesperrt war er lange Jahre seines Lebens. Und doch war er frei. Gustav Mesmer dichtete, zeichnete, baute Sprungschuhe, Sprechmaschinen und Räder mit Flügeln. Sein Hubschrauberflugrad empfängt die Besucher in der Schwabenausstellung im Alten Schloss.

Stuttgart/Kirchentellinsfurt - Die Sache mit den Nägeln, die ist Stefan Hartmaier (57) im Gedächtnis geblieben. Seit er ein Bub war, schaute er bei Gustav Mesmer in dessen Werkstatt in Buttenhausen vorbei. Der war da schon ein alter Mann, entlassen aus der Psychiatrie, weithin bekannt als Sonderling und Konstrukteur von seltsamen Dingen. Sein Material kruschtelte er sich zusammen, fand es oder klaubte es aus der Alteisensammlung. Hartmaiers Bruder wollte Mesmer Gutes tun, schenkte ihm ein Päckchen Nägel. Als Stefan mal wieder vorbeischaute, fand er das Päckchen ungeöffnet. „Das ist doch viel zu schad!“, hat Mesmer gesagt und lieber alte Nägel gerade geklopft.

 

„Wo die Schule versagt, geht das Leben einen Nebenweg“

Er war ja selbst so ein krummer Nagel, den man partout gerade klopfen wollte. „Drei Sylvester, 16 Tage nach der Jahrhundert Illumination und deren Salvenkrachen erfolgte der Geburtstag, am 1903/16ten Januar. Mein eigenes Geschrei kündete meine Erscheinung an.“ So schrieb Mesmer später. Zwölf Kinder waren sie in dem Haus an der Heugasse in dem Dörfchen Altshausen nahe Ravensburg. Er kränkelte, zwei Halsoperationen machten ihn bettlägrig, ein Jahr lang konnte er nicht in die Schule. Dann waren alle Lehrer im Krieg, mit zwölf Jahren wurde er Tagelöhner, tingelte als Verdingbub von Hof zu Hof. „Wo die Schule versagt, geht das Leben einen Nebenweg“, beschreibt er das. Im Kloster Untermarchtal „stiften mich die Schwestern an, ein Ordensmann zu werden. Sie sagten, sie gebten doch so ein schönes Päterchen“. Er ging ins Kloster Beuron zu den Benediktinern. Die Enge zermürbte. „Sechs Jahre hielt ich aus, bis alle Himmelsherrlichkeit zerfiel.“ Er verließ das Kloster und lernte Schreiner. Während eines Abendmahls verkündete er lauthals, der Messwein sei nicht das Blut Christi, alles sei Schwindel.

Er war 35 Jahre in der Psychiatrie

Er störte, er war anders, hatte zu viele Gedanken im Kopf, unerhörte zudem. Wohin mit ihm? Nur weg. Der Hausarzt befand, es sei nicht ausgeschlossen, dass er sich und anderen etwas antue. Er schickte ihn in die Heilanstalt nach Bad Schussenried. Die Diagnose dort lautete: „Schizophrenie, langsam fortschreitend, bei einem von Haus aus vielleicht schon schwachsinnigen Menschen.“ Die nächsten 35 Jahre seines Lebens wird er in der Psychiatrie verbringen.

Ist wirklich wahnsinnig, wer ein Doppelmaikäferflugfahrrad baut, eine Doppelhalsgeige oder eine Trompetengitarre? Natürlich nicht. „Man wusste schlichtweg nicht, wie man mit ihm umgehen sollte“, sagt Stefan Hartmaier. Er ist Vorstand der Gustav-Mesmer-Stiftung. Sein Ausstellungsbüro hat ihren Sitz in einer alten Weberei in Kirchentellinsfurt. Dort bewahrt er auch die Werke Mesmers auf. Im Keller lagern seine Räder samt Zubehör. Alles Bausätze, leicht umrüstbar. Die Flügel passen auf jeden Rahmen. Doch sie drohen zu zerfallen. Gebaut sind sie nämlich aus Düngersäcken. „Das Plastik härtet aus“, sagt Hartmaier, „das Material wird spröde.“ Glücklicherweise hat Mesmer so viel Säcke gesammelt, dass man ausbessern kann. Wie er überhaupt ein rechter Schwabe war, nur nix verkomme lassen. Seine Gedichte schrieb er auf Schokoladenpapier von Ritter-Sport, seine Zeichnungen malte er auf Computerpapier für Nadeldrucker. Gebrauchtes natürlich. Auf eine 14 Meter lange Tapete hat er einen sogenannten Tagesfilm gemalt. Und natürlich das Abspielgerät selbst entworfen.

Ein Artikel hat ihn beeindruckt und beeinflußt

Beim Binden von Illustrierten hatte Mesmer einst einen Artikel über Franzosen und Österreicher gelesen, die mit einem Rad fliegen wollten. Das begeisterte ihn. Und beschäftigte ihn. Tüfteln, basteln, werkeln, zeichnen, schrauben, so schritt er auf dem Nebenweg voran. Ohne Klagen, ohne Jammern, ohne Hadern. Das hat Hartmaier stets bewundert. „Er lebte in der Welt, die er für sich erdacht hat“, sagt er, „in sich ruhend, ohne Vorwurf, nie war er nachtragend.“ Was nicht bedeutet hat, dass er gleichgültig war.

Er wusste stets, dass er eingesperrt war. Er beschreibt das Badehaus, mit „Stacheldraht umwickelt“, wer nicht ins Wasser ging, wurde hineingeschmissen. Die Mauer im Anstaltsgarten war so hoch, „dass kein Blick ins Volkstreiben möglich gewesen wäre“. Die Mauern waren gewaltig in Bad Schussenried. Aber sie schützten nicht vor den Weltläuften. 600 Patienten aus Bad Schussenried wurden von den Nazis in Grafeneck vergast, 150 Menschen zwangssterilisiert. In den späten 30er Jahren riss Mesmer sechszehnmal aus und lief nach Hause. Immer wieder schickten sie ihn zurück. Mesmer war nützlich, er konnte arbeiten als Buchbinder und Korbmacher. Das schützte ihn vor dem Tod.

1964 holte ihn seine Schwägerin nach Buttenhausen

Nach dem Krieg wollte er fort von diesem Ort. Er kam nach Weißenau. 1964 schließlich holte ihn seine Schwägerin aus der Psychiatrie. Er zog in ein Altenheim nach Buttenhausen, einem Ortsteil von Münsingen. Dort richteten sie ihm eine Werkstatt ein. Endlich konnte Mesmer seine Gedanken umsetzen. Er flocht Körbe, er reparierte, was immer Nachbarn vorbeibrachten, er baute seine Flugräder. Allmählich verbreitete sich sein Ruf. Das ZDF drehte einen Film, da sieht man ihn den Berg hinabradeln, die Flügel flattern und rattern. Er ist jetzt der Ikarus vom Lautertal.

Alsbald kannte man ihn nicht nur in Oberschwaben und auf der Alb. Hartmaier organisiert Ausstellungen in New York, Paris, Mannheim, Lausanne und Brüssel. Zu gerne würde er das Lebenswerk Mesmers krönen und eine ständige Ausstellung einrichten. Die alte Werkstatt in Buttenhausen ist aber abgerissen, die Suche nach einem geeigneten Haus dauert an. Bis dahin schickt er Teile von Mesmers Werk durch die Welt. 1992 findet eines der Flugfahrräder den Weg in den deutschen Pavillon bei der Weltausstellung in Sevilla. Thema dort: Der Traum vom Fliegen.

Der Weltrekord für ein Flugrad liegt bei 115 Kilometern

Mit Muskelkraft abheben, das kann man wirklich. 1988 bauten Studenten des Massachusetts Institute of Technology (MIT) aus Boston die Daedalus 88. Sie wiegt 31 Kilo, hat eine Spannweite von 34 Metern. In die Pedale trat der Radrennfahrer Kanellos Kanellopoulos. Auf dem Militärflughafen Heraklions auf Kreta hob die Daedalus ab, in Santorin setzte sie wenige Meter vor dem Strand auf dem Meer auf. Eine Windböe hatte den Flieger heruntergedrückt, Kanellopoulos wurde nass. Doch die Freude war groß. 115 Kilometer war er geflogen. Es ist der bis heute gültige Weltrekord für ein Muskelkraft-Flugzeug, wie das offiziell heißt.

Am Ende seines Lebens, da war er schon fast berühmt geworden, der Gustav Mesmer, da wollte jeder wissen, ob er denn jetzt schon mal geflogen sei. Sein Nein wurde nicht akzeptiert, es beendete den Hagel an Fragen nicht, also sagte er einfach mal „Ja, fast 50  Meter ins Tal hinab“, leider sei keiner dabei gewesen – und plötzlich waren alle zufrieden. Er hatte seine Ruhe. Außerdem kam es gar nicht darauf an, ob sein Fahrrad abhob oder nicht. Seine Gedanken flogen, sein Leben lang. Er starb an Weihnachten 1994.