Zwei junge Gründer haben eine Textanalyse entwickelt, die zwischen den Zeilen lesen kann. Sie erfasst in Sekundenschnelle, welche Charaktermerkmale der Autor hat. Ein Instrument für Personaler?

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

Heilbronn - Mit Daniel Spitzer kann man sich nicht ganz unbefangen unterhalten. Der 28 Jahre alte Psychologe, der sich im Studium auf Sprachanalyse konzentriert hat, erkennt rasch, ob sein Gegenüber ein dominanter oder eher verhuschter Charakter ist. Dabei achtet er nicht nur auf den Inhalt der Worte. „Der reine Inhalt gibt nur 15 Prozent unserer Persönlichkeit preis“, erklärt er. Viel mehr sage die Struktur der Sprache aus: Wie häufig wird beispielsweise das Wort Ich verwendet? (Viele Ichs deuten auf eine eher depressive Persönlichkeit hin.) Neigt die Person zum Substantivieren und verwendet sie viele Artikel? Dann entspricht sie eher dem Typ Analytiker als dem Typ Bauchentscheider.

 

Aus diesen wissenschaftlichen, gar nicht mal neuen Erkenntnissen – die ersten Studien stammen aus den 1980er Jahren – strickte Spitzer eine Geschäftsidee. „Ich war überrascht, dass diese Zusammenhänge in der Praxis noch gar nicht angewendet werden.“ Nicht einmal von Google oder Microsoft. Ein Jahr lang brachte Spitzer sich mithilfe von Web-Schnellkursen das Programmieren bei. Dann, im Dezember 2015, stellte er seine Textanalyse-App „100 Worte“ ins Netz.

Business Angel beteiligt sich mit sechsstelliger Summe

Die App analysiert Whatsapp-Chats: Man exportiert einen ganzen Chat-Verlauf und erfährt dann aus verschiedenen Balkendiagrammen etwa, wie gut sich die Chat-Partner verstehen, wie sich die Beziehung im Laufe der Zeit verändert hat oder welche Bedürfnisse und gegenseitigen Erwartungen die Chatpartner haben.

Nicht nur Spitzers Freunde, seine ersten Testpersonen, fanden die App genial. Auch die Jury von Innowerft, einem von SAP geförderten Gründerzentrum in Walldorf, wo Spitzer sein Projekt mithilfe von Experten testen und verfeinern konnte, war von seiner Geschäftsidee beeindruckt. Er gewann eine Beteiligung in Höhe von 10 000 Euro und sammelte eine Menge Kontakte, darunter einen Business Angel, der eine sechsstellige Summe zu investieren bereit ist. So nennt man Unternehmer, die sich mit Geld und Knowhow in Gründerprojekte einbringen, aber häufig anonym bleiben wollen. Allerdings forderten die Geldgeber, dass Spitzer sich einen Partner sucht. „Mir als Psychologe wuchs das ganze Betriebswirtschaftliche allmählich über den Kopf“, erinnert sich Spitzer. Also holte er einen alten Schulfreund an Bord, Simon Tschürtz, der dafür sogar seine Festanstellung bei Audi sausen ließ.

Eine Zielgruppe der App sind Unternehmen

Gemeinsam haben sie die Textanalyse weiterentwickelt, die mittlerweile 13 070 Worte, 22 Attribute und 20 wissenschaftliche Studien berücksichtigt, und an die Bedürfnisse zahlungskräftigerer Zielgruppen angepasst wurde. „Mit einer App allein ist kein Geld zu verdienen“, erklärt Simon Tschürtz. „Mit Unternehmen aber schon.“

Die erste Zielgruppe, die die beiden angepeilt haben, sind Firmen, die Bewerber anhand ihres Anschreibens besser kennenlernen wollen. „Bisher orientieren sich Personaler nur an Noten und an der fachlichen Qualifikation“, beobachtet Tschürtz. Das Bewerbungsschreiben verrate jedoch auch, ob jemand teamfähig ist, ob er ehrlich ist oder wie ausgeprägt sein Bedürfnis nach Erfolg und Macht ist. Die Gefahr, dass Bewerber sich in ihrem Anschreiben verstellen, ist gering. „Wir können den Einsatz von Funktionswörtern – dazu gehören Hilfsverben, Konjunktionen, Präpositionen, Pronomen – nicht bewusst steuern“, sagt der Psychologe Spitzer. Außerdem werde spätestens beim persönlichen Gespräch klar, welche Persönlichkeit sich dahinter verbirgt.

Firmen können gezielte Werbebotschaften platzieren

Eine weitere Zielgruppe sind Unternehmen, die wissen möchten, wie ihre Marke im Internet wahrgenommen wird, sowohl in der Presse als auch in den sozialen Netzwerken, und ob das Bild mit der Eigenwahrnehmung übereinstimmt. „Das ist eine enorme Arbeitserleichterung für die Firmen“, sagt Spitzer. Anstatt jemanden alle Presseberichte durchlesen zu lassen, erfasst die Software in einer Sekunde und auf objektive Weise, wie es um das Image des Unternehmens in der Öffentlichkeit steht: Wird die Marke eher als kühl und rational oder eher als emotional und herzlich empfunden? Überwiegt Lob oder Ärger? Entsprechend können Firmen gezielte Werbebotschaften aussenden, um sich auf dem Markt besser zu positionieren und sich von Konkurrenten abzugrenzen.

„Als Anschauungsbeispiel haben wir das Image von VW nach dem Diesel-Skandal untersucht“, erzählt Spitzer. „Wir haben verglichen, wie der Autokonzern in den ersten zwei Quartalen dieses Jahres abgeschnitten hat.“ Spitzer zeigt ein Balkendiagramm auf seinem Tablett. „Der blaue Balken, der für negative Emotionen steht, war bereits recht hoch – und ist weiter angewachsen. Der Balken für positive Emotionen ist deutlich geschrumpft“, erklärt er.

Die App zeigt auch wie gut Produkte einer Firma bei ihren Kunden ankommen

Ähnlich sieht die Anwendung aus für Firmen, die wissen wollen, wie gut ihre Produkte bei den Kunden ankommen. „Wir haben anhand von tausend Produktrezensionen von Amazon – ohne auf das Sterne-Rating zu schauen – nachgeprüft, wie valide unsere Textanalyse ist. Bei sieben bis acht von zehn Produkten entsprach das Ergebnis der vergebenen Anzahl an Sternen“, berichtet Spitzer. „Das ist für psychologische Merkmale sehr gut.“

Neben diesen drei Zielgruppen hat das Team weitere zwölf potenzielle Anwendungen auf seiner Liste, darunter auch Visionen und Gedankenspiele. Man könnte beispielsweise Buchempfehlungen aussprechen, wenn der Sprachstil eines Buches dem eines Kunden ähnelt, sagt Tschürtz. „Dazu bräuchte man allerdings Schreibproben vom Kunden.“ Vielleicht könnte man anhand von Analysen zu Aktienmarktberichten sogar Kursentwicklungen vorhersagen. „Ob es da Zusammenhänge gibt, müssen wir aber noch prüfen“, betont Tschürtz.

Bis zum Ende des Jahres sollen Umsätze in der Bilanz stehen

Bei einschlägigen Online-Partnervermittlungsbörsen sind die beiden Gründer bereits vorstellig geworden. Diese sahen in der Anwendung jedoch offenbar eine bedrohliche Konkurrenz zu den eigenen Abgleichmethoden, die auf psychologischen Fragebögen beruhen – und lehnten eine Zusammenarbeit ab.

Dagegen lief das Start-up beim Medienbeobachter Echobot offene Türen ein. Echobot analysiert ebenfalls für Firmen digitale Inhalte und hat unter seinen mehr als 750 Kunden auch große Unternehmen wie Lidl. „Echobot hat unsere Anwendung mit ins Programm genommen“, sagt Tschürtz. „Außerdem werden wir sehr bald bei weiteren Kunden vorstellig.“ Dass der Markteinstieg gelingt, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in den anderen Ländern Europas, davon sind die beiden Gründer offensichtlich überzeugt. Vor Kurzem haben sie Büroräume in der Innovationsfabrik Heilbronn bezogen, in denen bis Ende des Jahres fünf Mitarbeiter sitzen sollen, darunter zwei weitere Programmierer und ein Vertriebsexperte. Noch in diesem Jahr wollen sie erste Umsätze in ihrer Bilanz sehen.

Die App kann man unter einem Link ausprobieren

Bei allem Optimismus würde eine rückblickende Analyse der eigenen Befindlichkeiten wohl ein Gefühlschaos zu Tage fördern. „Wir haben alle emotionalen Facetten durchlebt, von tiefen Zweifeln, Ängsten und Ärger bis hin zu Euphorie“, erzählt Daniel Spitzer. „Dabei haben wir aber bislang immer gut harmoniert“, fügt sein Kompagnon Simon Tschürtz hinzu. „Wenn ich einen Aussetzer hatte, hat Daniel mich wieder aufgebaut. Und umgekehrt.“

Wer sich mag, spricht ähnlich

Die Sprachanalyse 100 Worte basiert hauptsächlich auf Arbeiten des amerikanischen Sozialpsychologen James W. Pennebaker in den 80er Jahren. Er fand als erster heraus, dass gerade die scheinbar unwichtigen Funktionsworte am meisten über eine Person verraten. Pennebaker hat daraufhin ein Analyseprogramm entwickelt, das allerdings nur in der Wissenschaftsszene kursiert. Andere Wissenschaftler stellten in späteren Studien außerdem fest, dass, wenn zwei Menschen Zuneigung zueinander empfinden, sich ihr Sprachstil und die Verwendung von Funktionsworten angleicht.

Bei Textanalysen spielt auch eine große Rolle, ob es sich bei dem Verfasser um einen Mann oder eine Frau handelt: Frauen benutzen beispielsweise viele Personalpronomen, weil sie eher über Beziehungen sprechen als Männer. Diese wiederum verwenden gerne Präpositionen oder Artikel, um der Sprache mehr Genauigkeit zu geben, und neigen zu langen Wörtern. alm