Eine Lesung der besonderen Art. Eine Wohngemeinschaft in Stuttgart-West hat die Autorin Juliana Kálnay zu einer Lesung zu sich nach Hause eingeladen.

Stuttgart-West -

 

Es ist schon lustig, so viele wildfremde Leute hier in der Wohnung zu haben“, stellt Fabian mit einem Blick auf den Trubel im Eingangsbereich fest. Der 34-Jährige Unternehmensberater und seine fünf Mitbewohner sind am Freitagabend Gastgeber einer Lesung der vom Literaturhaus Stuttgart initiierten Veranstaltungsreihe „zwischen/miete“. Diese präsentiert junge Autoren im Ambiente ausgewählter Wohngemeinschaften.

An der Silberburgstraße ist Juliana Kálnay zu Gast. Der breite Flur bildet mit den acht größtenteils geschlossenen Türen die Kulisse für die Episoden aus ihrem Romandebüt „Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“. Dabei handelt es sich um Geschichten, geprägt von einem Schwebezustand zwischen Fantastik und Realismus.

Immer wieder berühren sich Fiktion und Wirklichkeit

Rund 80 Zuhörer lauschen gebannt, was für eigentümliche Charaktere Kálnays Haus Nr. 29 beherbergt: Menschen, die sich nach und nach in Bäume verwandeln, die im Kleiderschrank ausharren oder sich entschließen, im Aufzug zu leben.

Immer wieder berühren sich Fiktion und Wirklichkeit. Eben liest die gebürtige Hamburgerin Kálnay von Kindern, die nach Hause kommen, da läutet es, weil ein paar verspätete Literaturfreunde eintreffen. Wenn sie einem Kapitel vorausschickt, in welches Stockwerk sie den Leser als Nächstes zu entführen gedenkt, taucht unweigerlich das stilvolle Treppenhaus des Stuttgarter Altbaus vor dem inneren Auge auf. „Es ist etwas Besonderes, wenn man seine Texte in so einem Rahmen vorstellen kann“, urteilt die Autorin über das Konzept der Veranstaltung. Ludwig (35) ist ohnehin begeistert. Er war es, der sich stellvertretend für die WG darum gekümmert hat, die literarische Begegnung an Land zu ziehen. „Wir haben so eine tolle Wohnung, da mussten wir diese Chance nutzen, auch andere davon profitieren zu lassen“, erklärt er. Die Mieter, die eine Etage höher leben, sind auch vorbeigekommen und genießen das Verschwimmen von imaginiertem und greifbarem Ort.

Die Welt, die Juliana Kálnay, Jahrgang 1988, entrollt, wurzelt im Schaffen von Autoren wie James-Joyce oder Julio-Cortázar, bringt aber einen eigenen Erzählton ein, der dazu verführt, den Charakteren nachzuspüren, Deutungsversuche zu wagen und Schlüsse zu ziehen – auf die Gefahr hin, dass sie sich schon wenig später als falsch erweisen.

Der Flur wird zum mit Sitzkissen bestückten Kulturraum

„Ich finde Fragen spannender als Antworten“, bekennt die Schöpferin von skurril anmutenden Figuren wie Ronda, die sich damit abfinden muss, dass ihre Goldfische nicht im Aquarium bleiben wollen oder Maia, die mir bloßen Händen Löcher gräbt und sich darin versteckt. Der Stuttgarter Germanistik- und Philosophiestudent Samuel Ulbricht (23), versteht es, in den eingeschobenen Interview-Blöcken, den Einblick in das Gesamtwerk zu vertiefen, ohne es zu entzaubern oder sich in fachspezifischen Details zu verlieren.

Verwandlungen sind ein Hauptmotiv in „Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“. Ein Stück weit verwandelt sich auch die Wohngemeinschaft. Der Flur wird zum mit Sitzkissen bestückten Kulturraum. Die Wand zieren Auszüge aus dem Roman. Nach der Lesung kann man das Buch erstehen – in der Küche, zwischen Pizzakartons und Gewürzen. Tatsächlich ist die Kunst an diesem Abend im Alltag angekommen. Nicht nur zur Zwischenmiete, sondern als Erlebnis, das einen bleibenden Eindruck hinterlässt.