Finanzieller Schaden ist dem Stuttgarter Ballett durch die Absage von „Kafka“ nicht entstanden. Dafür gehen die Verletzungen tief, die Marco Goecke nach dem Aus für seine Stuttgarter Karriere empfindet.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - Spielzeitende, das ist auch die Zeit der Preise, Nominierungen und Kritikerumfragen. Dass Marco Goecke, noch Haus-Choreograf des Stuttgarter Balletts, dabei keine unwichtige Rolle spielen wird, ist zu erwarten, auch wenn er die Premiere von „Kafka“ mit seiner Kompanie krankheitsbedingt absagen musste. Dafür ist sein „Nijinsky“ für Gauthier Dance, der international sehr viel Anklang fand, noch sehr präsent.

 

In den Niederlanden, wo Goecke mit dem Nederlands Dans Theater verbunden ist, wurden bereits die Nominierungen für den „Swan“ verkündet, eine dem deutschen Theaterpreis „Der Faust“ vergleichbare Auszeichnung. Dort ist Goecke mit „Midnight Raga“ vertreten und durfte sich bereits über die Glückwünsche des stolzen NDT freuen.

Grund zur Freude hat Marco Goecke sonst allerdings wenig, nachdem ihm Tamas Detrich, der designierte Intendant des Stuttgarter Balletts, die Zusammenarbeit kündigte. Und dann noch die durch seine Erkrankung bedingte Absage von „Kafka“, die bei manchen die Spekulationen genährt hat, dass der Stoff zu erdrückend für den Choreografen gewesen sei. Ein Vorwurf, der einen wie Goecke wenig kratzt. „Zu groß? Das hätten die Leute gern. Ich bin noch nie mit etwas nicht fertig geworden“, sagt er und verweist auf seine Bilanz: Siebzig Ballette habe er bislang geschaffen und nur zwei Mal gesundheitsbedingt passen müssen.

Rund vierzig Minuten Schrittmaterial, so der Choreograf, hatte er bereits für „Kafka“ entwickelt, bevor er einen Monat vor der Premiere krank wurde. Die Hauptpersonen wie Kafka oder seinen Vater zu definieren, war ihm am Beginn wichtig, die erzählerischen Bilder mit Gruppenszenen wollte er später einfügen. Was mit dieser Skizze nach der Absage passiert, ist unklar. Eine Fertigstellung des Projekts in den beiden nächsten Spielzeiten sei weder geplant noch möglich, sagt Vivien Arnold, Sprecherin des Stuttgarter Balletts. „Eine Uraufführung braucht mit der technischen Einrichtung und allen Beleuchtungsproben sehr viel Bühnenzeit“, und die sei für „Kafka“ im engen Plan des Opernhauses nicht eingetaktet.

„Ich möchte ‚Kafka‘ auf jeden Fall machen“

Vorstellen kann sich Marco Goecke auch, das nun ruhende Projekt für eine andere Kompanie zu vollenden, bräuchte dafür aber das Einverständnis des Stuttgarter Balletts. „Ich möchte ,Kafka’ auf jeden Fall machen. Ich finde die Auftragskomposition von Johannes Maria Staud schwierig, aber großartig.“ Für sie wäre eine Nichtaufführung ebenso bedauerlich wie für die Bühnen- und Kostümentwürfe von Michaela Springer.

Finanzielle Einbußen befürchtet das Stuttgarter Ballett durch die Spielplanänderung keine, auch wenn am geplanten Uraufführungsabend beim ersatzweise gegebenen „Don Quijote“ durch die bei Premieren nicht bedienten Abonnenten ungewöhnlich viele Plätze frei blieben. Die für „Kafka“ anvisierte Auslastung von achtzig Prozent werde wohl unterm Strich auch mit Ersatzstücken wie „Romeo und Julia“ erzielt, so Vivien Arnold.

Bleibt der menschliche Schaden, und der ist groß. Marco Goecke ist durch das Aus für seine Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Ballett „tief verletzt“, wie er sagt. Auch eine ausbleibende Positionierung Reid Andersons, der ihn viele Jahre gefördert hat, enttäuscht. „Er hat mir klipp und klar gesagt, dass er Tamas Detrichs Entscheidung respektiert. Aber noch ist er mein Chef und muss als solcher auf uns beide Rücksicht nehmen“, findet Goecke.

Mit seiner eigenständigen Handschrift hat Goecke Choreografen und Tänzer inspitriert

Als wacher Zeitgenosse weiß der Choreograf, dass Intendantenwechsel Umbrüche bedeuten und dass auch Künstler den Strukturen der Arbeitswelt unterworfen sind. Um sein Werk, das in Stuttgart möglicherweise nicht mehr intensiv gepflegt wird, sorgt er sich weniger. Schließlich ist er ein Künstler, dem mehr am Unbequemen und Neuen liegt als an der Pflege eines Erbes. „Ich weiß, dass diese Entscheidung nicht das Ende meiner Karriere ist“, sagt Goecke, „aber sie zerstört das soziale Umfeld, das ich mir in Stuttgart aufgebaut habe.“ Und das tut dem 45-Jährigen weh. Ihm bleibt momentan nur der Rückhalt der Tänzer und das gute Gefühl, mit einer eigenständigen Handschrift junge Choreografen inspiriert zu haben. „Ich habe den Geschmack und Stil der jungen Leute hier mitgeprägt. Das will ein Direktor vielleicht nicht neben sich haben“, sagt er.