Dunkle Beziehungen: Die dänische Autorin Naja Marie Aidts erzählt in ihrem Roman „Schere, Stein, Papier“ vom gescheiterten Versuch, im bürgerlichen Leben Fuß zu fassen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Schreibwarenhandlungen sind als Schauplätze von Romanen eher von begrenzter Attraktivität, würde man auf den ersten Blick meinen. Was soll sich hier schon ereignen, was man Papier und Bleistift anvertrauen würde. Eben weil man Papier und Bleistift in digitalen Zeiten ohnehin immer weniger vertraut, liegt etwas leicht verstaubtes über diesem Ambiente, etwas, das an beschauliche Bildungsbestrebungen erinnert, vielleicht an bedrohte Kulturtechniken.

 

Moderne bürgerliche Idyllen könnte man sich hier vorstellen. Und vielleicht hat genau die Sehnsucht nach solchen den Protagonisten von Naja Marie Aidts Roman „Schere, Stein, Papier“ bewogen, nach einem abgebrochenen Architekturstudium zusammen mit einem Freund ein Geschäft für Büroartikel zu gründen. Denn er kommt aus einer Welt, die das extreme Gegenteil einer bürgerlichen Idylle ist: aus einer gründlich zerrütteten Familie, sofern man das, was die kriminellen Machenschaften des Vaters hinterlassen haben, Familie überhaupt noch nennen will.

Wie ein Stein hängt die Vergangenheit zwischen Schere und Papier, mit denen Thomas O’Mally Lindström nun sein Auskommen findet. Und dieses Schwergewicht löst auf der Ebene der Romanhandlung ein, was sich in dem Motto aus Rilkes zehnter Elegie zusammenzieht: „Und wir, die an steigendes Glück / denken, empfänden die Rührung, / die uns beinah bestürzt, / wenn ein Glückliches fällt.“

Eine an der Lyrik geschulte Wahrnehmung hebt diese Erzählung vom steigenden und fallenden Glück über die Absehbarkeiten einer Fluch-der-bösen-Tat-Geschichte hinweg. Wobei hier gleich mehrere solche Flüche miteinander kollidieren. Sie lasten drohend auf den Verbrechen, mit denen der Vater sein Leben bestritten hat. Und sie reißen Thomas unbarmherzig hinab, als er listig versucht, nach dem Tod des verhassten Erzeugers dessen heimlich an sich gebrachte Diebesbeute in den Aufbau eines geordneten Lebens zu investierten.

Kühler Blick ins Brodeln der Triebe

Doch es ist nicht die raffinierte Kombination von literarischer Kriminalistik und moralischem Schuldgericht, die den ersten Roman der mit dem Nordischen Literaturpreis ausgezeichneten, in Deutschland bisher mit zwei Erzählbänden hervorgetretenen dänischen Autorin zur Entdeckung macht. Es ist vielmehr die kühle Neugier, mit der sie in das Brodeln der Triebe und Motivationen blickt, die unser Handeln leiten. Unser Handeln, denn die Hauptfigur ist nahe genug gefasst, um eine Identifikation förmlich aufzudrängen. Gleichzeitig aber zu Entsetzlichstem fähig, um darüber bodenlos zu erschrecken.

Wenn Thomas, elektrisiert, von seinen Expansionsplänen, mit steifem Glied durch die Stadt steuert, verheißt das nichts Gutes. Beklemmender wurden Testosteron und Geschäftssinn selten aufeinander gereimt. Der Leser schließt den Pakt mit einem ausgemachten Widerling.

Und das ist nicht die einzige problematische Allianz, die die in Grönland geborene Naja Marie Aidt mit einer an Gefrierschnitte gemahnenden Genauigkeit seziert: die Ehe, in die Thomas sein verwundetes Leben gerettet hat, gehört ebenso dazu, wie das Verhältnis der sozialen Klassen, der Geschlechter, der sexuellen Orientierung oder die Bande des Blutes.

Manche Bündnisse lösen sich auf, andere bilden sich. Und diese Prozesse werden getrieben von einer elementaren Gewalt, die hinter der Oberfläche der realistischen Darstellung gefährlich bebt. Manchmal bilden sich Risse, die die Erzählung selbst gefährden. Zu den Mesalliancen, die hier arrangiert werden, zählt auch die Vereinbarkeit der Liebe zur Lyrik mit der Lust am Verbrechen. Doch so sehr Naja Marie Aidts Sprache selbst von der intimen Vertrautheit mit lyrischer Ökonomie profitiert, stößt diese Liaison an die Grenzen dessen, was ein Roman zu tragen vermag. Die Gestalten, die sich daraus ergeben, sind mehr Geschöpfe des Wunsches als der Wahrscheinlichkeit.

Am Ende sind die Scheiben des schmucken Ladens zerborsten, die Ehe liegt in Trümmern, und das Zufallsurteil von Schere, Stein, Papier mündet in ein Blutgericht, das von einer bürgerlichen Idylle ungefähr so weit entfernt ist wie eine griechische Schicksalstragödie. Dass dabei ein Schreibgerät eine tragende Rolle spielt, sei nur angedeutet. Jedenfalls wird nach diesem Roman niemand mehr Schreibwarenhandlungen für beschauliche Orte halten.