Sieben Jahre nach der Einführung von Street View fahren wieder Kameraautos durch Stuttgart, aber nicht im Auftrag von Google. Bei einer Spritztour lernt man viel über die digitale Zukunft – und noch mehr über Deutschland.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - In Deutschland sei es am schlimmsten, sagt Ruud Meessen. Seit zehn Jahren fährt er schon durch Städte in der ganzen Welt, immer einen Kamerakasten auf dem Dach seines Autos mit niederländischem Kennzeichen. Nirgends werde er öfter empört angeschaut, angehupt, in Diskussionen verwickelt, ja sogar bei der Arbeit behindert als in Deutschland. „Wenn Anwohner mit ihrem Auto die Straße blockieren, komme ich eben tags darauf wieder, dann sind sie meistens weg“, sagt Meessen mit einer Ruhe, die wohl nur entwickelt, wer Zehntausende Straßenkilometer gefahren ist und dabei Millionen Bilder dieser Straßen geschossen hat.

 

Der 29-Jährige arbeitet nicht für Google, sondern für die niederländische Firma Cyclomedia. Das stellt er immer als Erstes klar, wenn ihn jemand anschnaubt. So wie der US-Internetkonzern es vor Jahren in Deutschland getan hat, lenkt der Fahrer ein Kameraauto durch die Städte und fotografiert. Der Unterschied zu „Street View“: die Rundumbilder, die Meessen einsammelt, werden nicht ins Internet gestellt, sie können nur von Verwaltungsmitarbeitern eingesehen werden – weil deren Behörde sie bestellte. So wie in Stuttgart, wo das Stadtmessungsamt gerade das Stuttgarter Straßennetz abfotografieren lässt, insgesamt 1600 Kilometer sowie einige Fußgängerzonen.

Die Verwaltung will damit die Zahl der Außentermine reduzieren. Man könne ja genauso gut am Rechner Verkehrsschilder zählen, Veranstaltungsflächen abstecken oder Einsätze für die Feuerwehr planen, heißt es. 150 000 Euro haben mehrere Ämter dafür aus den eigenen Mitteln zusammengekratzt, ein weiterer Schritt hin zur digitalen Verwaltung.

Stuttgart ist bald lückenlos vermessen

Bei der Vermessung der Stadt ist man ziemlich weit: von oben ist Stuttgart lückenlos fotografiert, im Juli liefert Cyclomedia die fertigen Straßenbilder. Dank eines Lasermoduls auf dem Autodach werden die Straßen zentimetergenau vermessen, die Bilder können mit weiteren Daten verknüpft werden.

Damit kann die Verwaltung für ganz Stuttgart kontrollieren, ob etwa Gastronomen draußen zu großzügig bestuhlt haben, sie kann Gebäudehöhen prüfen oder sich auf die Suche nach nicht genehmigten Anbauten, Dachterrassen und ähnlichem machen – theoretisch sogar vollautomatisch, sie hat ja die Daten und die Bilder. Vor Big Brother müsse trotzdem keiner Angst haben, meint Markus Müller vom Stadtmessungsamt: „Wir haben zwar die Bilder, aber auswerten muss sie immer noch ein Mitarbeiter.“ So üppig sei die Verwaltung mit Personal außerdem nicht ausgestattet.

In Stuttgart sind zwei Fahrer im Einsatz. Jeder von ihnen muss mindestens 50 Kilometer Straße am Tag erfassen. Alle fünf Meter löst der am Rücksitz mitfahrende Computer die Kameras aus. Sie sind nach links, rechts, vorne, hinten und oben ausgerichtet – hinterher werden die Fotos zu Rundumansichten zusammengesetzt. Am Nachmittag hat Meessen sein Pensum erfüllt. Mit 10 000 Fotos im Kasten nimmt er den Reporter mit auf eine Spritztour.

Wie man möglichst effizient durch Stuttgart kurvt

Am effizientesten ist für ihn eine Blockbebauung wie in Stuttgart-West. Da fährt Meessen erst die großen Straßen ab und teilt das Gebiet in kleine Parzellen auf. Die durchkämmt er dann Block für Block. Am Eugensplatz verlaufen die Straßen aber alles andere als gleichförmig. Seine Methode: immer rechts abbiegen – auch wenn es die Uhlandshöhe hinaufgeht, wo Autos gar nicht fahren dürfen. Cyclomedia hat eine Sondergenehmigung, und der Weg zur Aussichtsplattform ist an diesem Nachmittag so wenig belebt wie das umliegende Viertel. Hier ein Radfahrer, dort eine Mutter mit Kinderwagen. Keine empörten Anwohner. Trifft der Fahrer auf eine Privatstraße, kehrt er um und trägt das in die Karte ein. Versperrt eine Baustelle den Weg, kommt er später wieder. Am Handschuhfach ist ein Monitor montiert, der das Straßennetz zeigt, darauf lauter kleine grüne Punkte – jeder Punkt ein Rundumbild. „Sieht aus wie Pacman“, sagt Meessen.

Das Computerspiel, in dem eine kreisförmige Figur viele kleine Punkte frisst, kam 1980 auf den Markt. Im selben Jahr begann an der Technischen Universität Delft die Entwicklung einer Rundumkamera, wie Cyclomedia sie im Prinzip bis heute einsetzt. Für die ersten durchgängigen Straßenpanoramen musste der Fahrer alle zehn Meter anhalten und händisch den Auslöser betätigen. Wie man die Abzüge hinterher zusammensetzte, kann sich der Cyclomedia-Vertreter auch nicht so richtig vorstellen. Jedenfalls war das alles lange, bevor Google überhaupt gegründet wurde.

Heftige Diskussionen um „Street View“

Der Konzern hat das Street-View-Prinzip nicht erfunden, zeigte aber, was möglich ist – im Guten wie im Schlechten. Wenn Meessen bis heute auf seinen Touren durch deutsche Städte von Bürgern behindert wird, ist das auch eine Folge der Street View-Diskussion im Sommer 2010. Damals stritt halb Deutschland, was von diesem Dienst zu halten sei. Eine viertel Million Hausbesitzer machten vom Recht Gebrauch, ihre Immobilie verpixeln zu lassen.

Der damalige Grünen-Fraktionschef Winfried Kretschmann sprach von einem „rechtsfreien Raum“, der Kickers-Präsident Edgar Kurz warnte: „Street View“ helfe womöglich Einbrechern. Wie viele andere Kommunalpolitiker forderten die Gemeinderäte in Korb Google einstimmig auf, kein Kameraauto in die Remstalgemeinde zu schicken. Der Kornwestheimer Bürgermeister Dieter Allgaier drohte mit rechtlichen Schritten, sollten Aufnahmen städtischer Liegenschaften ins Netz wandern.

Die Google-Autos kamen weder nach Korb noch nach Kornwestheim, und das lag am allerwenigsten an den Drohungen aus den Rathäusern. Der Konzern konzentrierte sich auf eine Handvoll Großstädte. „Inzwischen sehen wir das Thema entspannter“, sagt Dieter Allgaier, der immer noch Bürgermeister in Kornwestheim ist, „damals wusste man nicht wirklich, was Google mit den Bildern vorhat.“

„Street View“ konserviert das Stuttgart von 2010

Auch nach sieben Jahren digitaler Lockerungsübungen kann jeder Immobilienbesitzer mit Verweis auf den deutschen Datenschutz einfordern, dass Google die eigene Hausfassade in „Street View“ verpixelt. Häufiger, so ein Sprecher des Konzerns, seien inzwischen aber Anfragen, Häuser wieder zu entpixeln – etwa wenn Besitzer eine Immobilie verkaufen wollen. Das gehe aber nicht, sagt Google, die Rohdaten seien gelöscht. Auch sonst bleibt der Internetdienst in Deutschland auf dem Stand von 2010. Damals musste der Konzern laut eigenen Angaben 200 Mitarbeiter einstellen, um alle Anträge schnell genug bearbeiten zu können. Dazu kam der Imageschaden. Das will Google sich nicht noch mal antun.

Während man von anderen Ländern aktuelle Bilder nicht nur aus Großstädten abrufen kann, ist in „Street View“ das Stuttgart von 2010 konserviert – das Europaviertel eine Brache, das Porsche-Museum im Bau, die Gegend zwischen Wagenburgtunnel und Bahndirektion noch nicht für Stuttgart 21 umgepflügt.

Für die Verwaltung sind diese Bilder unbrauchbar. Die Fotos, die sie künftig nutzt, zeigen Stuttgart im Frühsommer 2017. Keiner außerhalb des Rathauses wird sie zu Gesicht bekommen. Man kann das gut finden, weil so niemand einen Blick in Stuttgarts Straßen wirft, ohne sich dorthin zu bequemen. Man kann es auch schade finden, dass 150 000 Euro Steuergeld für etwas ausgegeben werden, von dem die Verwaltung viel hat, die Bürger jedoch höchstens etwas schneller bearbeitete Anträge. Auch diesmal kann jeder Hausbesitzer sein Haus verpixeln lassen, sollten die Bilder doch irgendwann veröffentlicht werden. Zehn bis fünfzehn solcher Anträge gingen je Stadt ein, sagt ein Sprecher des Unternehmens.

Cyclomedia fotografiert 600 000 Kilometer pro Jahr

Rund um den Kernerplatz, wo Ruud Meessen gerade unterwegs ist, präsentieren sich die fünf- bis sechsstöckigen Wohnhäuser in „Street View“ weitgehend unverpixelt. Renitent seien eher Leute aus den Gegenden mit den Einfamilienhäusern, weiß der Profi. Stuttgart sei da nicht anders. Er habe „nur die üblichen Beschimpfungen“ erlebt, meldet Meessen nach einer Woche im Schwäbischen.

Am Montag gingen sechs Festplatten voller Stuttgartbilder in die Firmenzentrale im niederländischen Zaltbommel, wo sie zusammengesetzt, Gesichter und Autokennzeichen verpixelt werden – das ist auch für den verwaltungsinternen Gebrauch Pflicht. Bei gutem Wetter sei er in zwei Wochen mit Stuttgart fertig, schätzt Meessen. Dann geht es weiter nach Darmstadt. 25 Städte hat Cyclomedia in Deutschland bereits abfotografiert, neben Köln, Frankfurt und Dortmund auch Aalen, Sindelfingen und Lindau. Jede Stadt beauftragt und zahlt separat, die Geschäfte laufen blendend. 600 000 Kilometer Straße fotografiert die Firma Jahr für Jahr, sie ist nicht die einzige am Markt. Und so gibt es Street View sieben Jahre nach der großen Debatte in immer mehr Städten. Aber eben nicht für alle.