Péter Nádas erhellt in seinem gewaltigen Erinnerungsbuch „Aufleuchtende Details“ ein düsteres Jahrhundert.

Stuttgart - Zwischen zwei Revolutionen hat Péter Nádas sein gewaltiges neues Buch eingespannt: zwischen der bürgerlichen von 1848, in deren Gefolge sein Urgroßvater im Budapester Parlament die Gleichberechtigung der Juden durchsetzte, und der ungarischen von 1956. Als 14-Jähriger steht er in der demonstrierenden Menge – eine Waise und beinahe der einzige Überlebende einer großen, einst großbürgerlichen jüdischen Familie, deren Zukunftsgläubigkeit in zwei Kriegen und zwei Massenmorden zuschanden wird. „Aufleuchtende Details“ schildert ein Jahrhundert als Pandämonium und Erblast.

 

Nádas’ Buch hebt an mit dem frühen Glück des Erzählers Péter Nádas als Kind auf den Knien des Großvaters. Doch es folgt keine Auto- und keine Familienbiographie, kein Memoir, auch keine historische Schrift. Diese und noch viel mehr Gattungen benutzt Nádas jedoch, um Details aufleuchten zu lassen, die er schon als Kind sammelt: Er beobachtet und befragt Verwandte und Freunde, studiert später Akten, Bücher, Hinterlassenschaften und sucht Häuser, Städte, Internierungslager im In- und Ausland auf.

Weit greift der Erzähler aus in Raum und Zeit und kehrt dann stets zu sich zurück: Es ist ein Erzählen wie Atmen. Sein Vater, notiert der Erzähler, überschüttet ihn mit naturwissenschaftlichen Erklärungen und vermeidet alles Persönliche, so, als habe er keine Erlebnisse. „Diese Eigenschaft habe ich leider geerbt, ich versuche sie durch völlige Offenheit auszugleichen. Auch wenn die eher auf der Ebene der Phantasie und der Fiktion funktioniert.“

Abschweifung durch Zeiten und Räume

Die „völlige Offenheit“ hat Nádas, der lange Jahre an Selbstmord dachte, umstürzende Romane schreiben lassen, zuletzt die 1700-seitigen „Parallelgeschichten“. In „Aufleuchtende Details“ erprobt er sie am eigenen Leib: Der Erzähler verzichtet auf Prioritäten und Perspektivierung, er wird porös. Nicht zufällig trägt das Buch denselben Titel wie ein Essay des ehemaligen Chemielaboranten, Fotografen und Journalisten über die Fotografie und die „reine Anschauung“.

In einer der mühelosen Abschweifungen durch Zeiten und Räume verknüpft Nádas die unberechtigte Verdächtigung von Verwandten, er habe als Heranwachsender die gleichaltrige Cousine sexuell belästigt, mit Reflexionen über die Natur des Menschen, über Gott in und nach Auschwitz und der Frage nach den Konsequenzen fürs Erzählen. Die Antwort gibt das vorliegende Buch: Nach dem Bankrott von Theologie, Aufklärung, Humanismus im 20. Jahrhundert kann Péter Nádas’ Ich-Erzähler keine gewöhnliche Autobiographie verfassen. Er erzählt, so der Untertitel, „Memoiren eines Erzählers“ und lenkt die Aufmerksamkeit durch eine Vielzahl von Einzelheiten hindurch auf die Struktur der menschlichen Wahrnehmung.

Nicht zufällig fällt der Name Marcel Proust, bevor Nádas’ Erzähler es unternimmt, das persönliche Gedächtnis – ohne jeden Rückgriff auf „Urbilder“ und Mystik! – zu sprengen. Die Assoziationsketten gleiten aus den 1940er Kindheitsjahren in das vorletzte Jahrhundert und wieder zurück, vom Vorbewussten ins Bewusste, vom Familiären ins Kollektive, vom Privaten ins Öffentliche. Auf die Spiele des Enkels mit dem Großvater folgen Szenen aus dessen Datscha an der Donau und seiner Goldschmiedewerkstatt, der Abschiedsbrief des depressiven Vaters, der sich und seine Kinder umbringen will, die Regeln familiärer Selbstdisziplin und des Sonntagsessens, Erläuterungen zu Halbedelsteinen und Fassungen, die Suche des Erwachsenen nach dem Haus mit Großvaters Werkstatt, die Sprengung der Budapester Brücken über die Donau beim Rückzug der deutschen Besatzer – und das ist eine nur unvollständige Synopsis allein der ersten 22 Seiten von insgesamt 1280. Manche Abschweifung wächst, durchsetzt von Anekdoten, Geschichten, Zitaten, Reflexionen, auf über 80 Seiten an. Nádas webt einen überwältigenden Teppich und porträtiert nebenbei die Textilkünstlerin Éva Szabó, deren Stoffe den Halbwüchsigen im Haus einer Tante faszinieren.

Nur wenig ist diesem Erzähler fremd

„Aufleuchtende Details“ besteht aus zwei gleich großen Teilen. Viele Fäden verbinden das so genannte „Familienlegendarium“ ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der zweiten Hälfte. In ihr schildert Nádas den illegalen kommunistischen Widerstand der Eltern gegen die faschistischen Pfeilkreuzler und deutschen Besatzer, er erzählt seine eigene Geburt parallel zu Massakern an den Juden von Radzyń, Łuków und Misotsch. Auf die Urgeschichte der Familie folgt ihr Untergang im 2. Weltkrieg, im Massenmord an den Juden und dem stalinistischen Terror.

Fremd ist diesem Erzähler wenig: Mode, Massenerschießungen, Esssitten, Rezepte, Porträts, Gerüche von Leichen, Exkrementen und Menschen, Musik, Judesein und Assimilation, Reisebeschreibungen, männliche und weibliche Körper, Lektüren und immer wieder Budapester Wohnungen, Straßen, Brücken, in und auf denen der Einzelne Teil der Menge ist. Eine unglaubliche Fülle des Disparaten wird zusammengebunden durch einen Erzähler, der intensiv hingibt an den Augenblick der Vergegenwärtigung. Erst erinnert er die Belustigung der elterlichen Bekannten, dass das Kind sie nicht erkennt, dann sprechen sie selbst: „Ah, du erinnerst dich nicht, was, du, erinnerst nicht.“

Verglichen mit den Höhenflügen und Höllenstürzen der Protagonisten in „Parallelgeschichten“ – man denke nur an den viertägigen, 120 Seiten langen und gänzlich unpornografischen Beischlaf darin – scheint „Aufleuchtende Details“ recht diskret. Das täuscht: Das Buch handelt vom fortschreitenden Bankrott des Sinns in einem Jahrhundert voller Grausamkeiten und von der Geburt eines Erzählers aus dieser grundlegenden Schwärze. Die dafür notwendige Selbstüberschreitung schenken die Bücher von Péter Nádas dem Leser auf verschwenderische Weise: als Erfahrung der Befreiung und Freiheit.

Péter Nádas: Aufleuchtende Details.
Memoiren eines Erzählers. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt Verlag, Reinbek. 1278 Seiten, 39,95 Euro. Der Autor stellt seinen Roman am 23. Oktober im Literaturhaus Stuttgart vor.