Neuer Tanzabend beim Stuttgarter Ballett: Die „Nachtstücke“ führen die Zuschauer in die Welt der Klubs und Elektrobeats, der Trommeln und Trancen – mit drei Stücken von Louis Stiens, Edward Clug und Jirí Kylián.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Der Titel ist nicht sonderlich verführerisch, weder verheißungs- noch geheimnisvoll – ganz anders als sein Sujet. „Nachtstücke“ hat Reid Anderson den Ballettabend überschrieben, der am vergangenen Freitag im Schauspielhaus Premiere feierte, um tänzerisch die Finsternis zu ergründen. Man sollte sich von dem prosaischen Namen nicht abschrecken lassen, ansonsten entgeht einem manch magischer Tanzmoment – und eine technisch hervorragend aufgelegte Kompanie.

 

Den mit 25 Jahren jüngsten Choreografen des Abends lässt Reid Anderson von zwei Meistern der Choreografiekunst in die Mitte nehmen: Eine Geste, die beweist, dass der Intendant vom choreografischen Talent seines Halbsolisten Louis Stiens weiter fest überzeugt ist. Das am Freitag uraufgeführte „Qi“ ist Stiens zweite Auftragsarbeit für das Stuttgarter Ballett; die erste, „Rausch“, entstand 2014.

In „Qi“ - das Wort stammt aus dem Chinesischen und ist mit Energie, Atem zu übersetzen - offenbart sich die Nacht als sprudelnde Kraftquelle, die Stiens‘ unübersehbare Lust an der Bewegung speist: Er legt in dem 25-minütigen Stück jedenfalls einen erstaunlichen Bewegungsreichtum an den Tag, sein Tanzforscherdrang lässt ihn immer wieder eigenwillige Gesten, witzige Details entdecken. Allerdings lässt er seiner Bewegungsneugier manchmal allzu freien Lauf und verliert sich in ihr, sodass dem Stück, zumindest phasenweise, die Zielgerichtetheit, die Prägnanz fehlt.

„Qi“ ist auch eine Hommage an Marco Goecke

Dennoch erweist sich „Qi“ als Stiens‘ bislang reifste Arbeit. Man sieht gerne zu, wie sich diese Nachtgestalten in ihre inneren Welten versenken oder aus sich herausgehen, sich zu feinsinnigen, immer wieder auch poetischen Bildern formieren und den Stimmungen der Nacht nachspüren. Dabei ist „Qi“ unverkennbar auch eine Hommage an den Hauschoreografen und Nacht-Verehrer Marco Goecke, einer von Stiens Vorbildern, das verraten nicht zuletzt die Kostüme, die Stiens selbst entworfen hat: Die Tänzer tragen zu ihren nackten Oberkörpern schwarze transparente Hosen; die Tänzerinnen schlichte schwarze Outfits.

Stiens schickt seine drei Tänzerinnen und fünf Tänzer in unterschiedlichen Konstellationen auf die arg karge Bühne, deren hintere Wand Christine Nasz mit einer schwindelig machenden 3D-Grafik verkleidet hat; er variiert Soli, Duos, Trios und Gruppenbilder. Es spricht für ihn, dass er der Solistenriege (Hyo-Jung Kang, Agnes Su, Elisa Badenes, Robert Robinson, Adam Russell-Jones) die zwei Eleven Timoor Afshar und Alessandro Giaquinto sowie das Corps-de-ballet-Mitglied Matteo Miccini an die Seite stellt – sie nutzen die gewährte Chance mit Bravour.

In der Klubkultur fühlt sich Louis Stiens zuhause

Stiens, der eine große Leidenschaft für Musik jeglicher Art hat, grundiert seine moderne Tanzsprache mit Barockkompositionen von Johann Heinrich Schmelzer, ein vielleicht etwas gewollt wirkender Kontrast, doch die höfischen Klänge geben dem Ganzen durchaus die passende nächtlich-melancholische Stimmung.

Farbe in die Bühnenwand und noch mal eine eigenwilligere, markante Kraft in den Tanz bringt der abrupte Wechsel in den letzten Minuten zu bassverzerrtem Elektrosound. Mit dem Track „That’s me“ von Evian Christ verweist Stiens wie schon in „Rausch“ auf die Klubkultur, in der er sich heimisch fühlt. Sein Alter Ego Robert Robinson gibt sich gedehnten, tranceartigen Bewegungen hin, pustet dazwischen verträumt seine Hand auf. Dieser Part lässt den barocken Teil fast wie ein allzu langes Vorspiel erscheinen, hier vor allem vermeint man so etwas wie einen choreografischen Herzschlag zu hören.

Wie Stiens folgt auch Edward Clug in „Ssss“ einer Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern durch die Nacht. Das Stück, das der Rumäne 2012 für das Stuttgarter Ballett kreierte, ist von Anfang an ein fesselndes Tanzkunstwerk.

Vier „Nocturnes“ erklingen live auf der Bühne

Schwarzglänzend liegt das Parkett vor leeren Reihen aus Klavierhockern: Auf der spiegelnden Fläche lässt Clug drei Tänzerpaare in schlichten nachtblauen Outfits sich in wechselnden Konstellationen begegnen, dazu spielt Alina Godunov am Flügel, mit dem Rücken zum Publikum, vier „Nocturnes“ von Frédéric Chopin.

Rätselhaft, verwunschen ist die Stimmung, expressiv und dennoch unterkühlt, von Zitterern, Schüttlern, Brems- und Tastmanövern gebrochen die Bewegungssprache – ein hinreißender Kontrast. Und so folgt man fasziniert diesen Beziehungsgeschichten, die die allesamt formidabel agierenden Tänzer und Tänzerinnen (meist auf Spitze) erzählen, beobachtet etwa gebannt die Hakeleien und Umklammerungen von Elisa Badenes und Adam Russell-Jones oder auch das Marionetten-Spiel, das David Moore mit der Ersten Solistin veranstaltet.

Mag „Ssss“ das nächtlichste der Nachtstücke sein – das vom ersten Moment an mitreißendste ist das abschließende „Falling Angels“. Aus dem Bühnendunkel schreiten acht Tänzerinnen wie in Slow-Motion den Zuschauern entgegen ins Licht, dann ertönt der erste Trommelschlag – und es ist, als ob irgendwo ein Starkstrom-Aggregat anspringt und das Schauspielhaus unter Hochspannung setzt.

Das Stück des Altmeisters wird zum Höhepunkt

Während bei Stiens noch so manches zerfließt, bringt Jirí Kylián alles exakt auf den Punkt. Das 1989 am Nederlands Dans Theater uraufgeführte Stück ist eine Kreation aus einem Guss, die nun mit der Stuttgarter Erstaufführung auch das Repertoire der Anderson-Kompanie ziert.

Einen guten Anteil daran haben freilich die vorwärtstreibenden Bongo-Rhythmen des ersten Teils von Steve Reichs Percussion-Komposition „Drumming“, die Jürgen Spitschka, Vanessa Porter, Paolo Bertoldo und Johannes Werner live vor der Bühne spielen.

Die Tänzer verausgaben sich zu den Trommelrhythmen

Die Choreografie, die zu Kyliáns sogenannten „Black and White Ballets“ zählt, folgt der Musik allerdings nicht sklavisch, sondern geht ihre eigenen Wege, um vom Leben von Tänzerinnen zu erzählen, das geprägt ist vom Wechsel zwischen Licht- und Schattenmomenten – ganz konkret bei den abendlichen Auftritten, aber auch im übertragenen Sinn. Kylián, der soeben seinen siebzigsten Geburtstag feierte, übersetzt das Motiv kongenial in die Lichtregie; dabei entstehen grafisch-geometrische Effekte, die mit dem abstrakten Tanzstil des Stücks korrespondieren.

Manchmal scheren eine oder zwei Tänzerinnen, vorwiegend Corps-Mitglieder, aus der Gruppenchoreografie aus, verfolgen ihren eigenen Kopf, doch alsbald werden sie wieder vom Sog der mit unglaublicher Präzision ausgeführten synchronen Bewegungsabfolgen erfasst und fahren auf hinreißende Art fort, sich zu den Trommelrhythmen zu verausgaben.

Hochästhetisch, dynamisch, originell, humorvoll – es ist das „Nachtstück“, das an diesem Abend im Schauspielhaus am hellsten strahlt. Der Applaus will nicht enden.

Vorstellungen 28. März, 1.,2., 25. April, 3. Mai. Eventuell Restkarten an der Abendkasse