Wenn mehr Menschen in die Pedale treten, reduziert das nicht nur den Autoverkehr in den Städten, es bringt auch volkswirtschaftlichen Nutzen. Doch das Thema polarisiert – und Deutschland steht beim Ausbau der Infrastruktur ganz am Anfang.

Stuttgart - Ein Radfahrer hat in Köln mitten auf der Straße geparkt mit einem Schild auf dem Gepäckträger „Nur kurz zum Bäcker“. Umgekehrt erlebe er solche Situationen täglich, sagte der Mann nach der publikumswirksamen Aktion dem Fernsehen. Er wollte mit der Aktion ein Bewusstsein dafür schaffen, was es bedeute, wenn Autofahrer den Radweg als Parkstreifen nutzten: „Dann muss man als Radfahrer in den fließenden Verkehr ausweichen.“ Ein weiteres Gefährdungspotenzial seien die sich plötzlich öffnenden Autotüren.

 

Das Verhältnis zwischen Auto- und Radfahrern ist durchaus spannungsreich. Da wird gedrängelt, gepöbelt, geflucht, gestritten. Dabei sind sich Forscher in einem einig: Mehr Radverkehr täte den Großstädten gut – ökologisch und ökonomisch. In Stuttgart sind die Werte für Feinstaub und Stickoxiden seit Jahren zu hoch. Der viele Autoverkehr ist einer der wichtigsten Gründe dafür. Sehen Sie die zehn wichtigsten Fakten zum Thema Feinstaub im Video:

Jeder auf dem Rad zurückgelegte Kilometer bringt einen Gewinn

Jeder Autokilometer verursacht nach Berechnungen von Stefan Gössling und Andy Choi von der schwedischen Universität Lund volkswirtschaftliche Kosten in Höhe von 15 Cent. Jeder auf dem Rad zurückgelegte Kilometer hingegen bringt der Gesellschaft einen Gewinn in Höhe von 16 Cent. In die Rechnung fließen auch Einsparungen ein, etwa bei den Gesundheitskosten, ebenso wie die Kosten für den Klimawandel und den Straßenbau, die Schadstoffbelastung und vieles mehr. „Normalerweise rechnen die Zuständigen ganz anders, beispielsweise: Was nutzt es, wenn ich einen Kilometer Autobahn baue“, sagt Gössling. Diese kurzfristigen Kalkulationen gehen häufig zugunsten des Autobahnkilometers aus. „Erst wenn man alle Kosten bedenkt, sieht man den wahren Nutzen des Radfahrens.“

Viele fahren irrationalerweise mit dem Auto

Radfahrer müssten dieser Rechnung zufolge belohnt werden. Aber das werden sie nicht – im Gegenteil: In vielen deutschen Städten mangelt es an Radwegen, an Stellplätzen und nicht zuletzt am Verständnis. Und das, obwohl alles dafür spricht, den Radverkehr zu stärken – vor allem auch angesichts des Verkehrschaos in vielen Großstädten. Gerade dort legen Menschen Wissenschaftlern zufolge irrationalerweise Wege mit dem Auto zurück, die sie mit dem Fahrrad schneller, einfacher und billiger bewältigen können.

Forscher messen das zunächst in der Anzahl der Wege, nicht in Kilometern: Im Schnitt legt ein Deutscher 3,6 Wege am Tag zurück, die meisten davon mit dem Auto. Mehr als 16 Prozent dieser Wege sind nach Erkenntnissen des Dresdner Verkehrswissenschaftlers Martin Randelhoff kürzer als drei Kilometer. „Da ist man mit dem Fahrrad schneller.“ Schließlich fallen Parkplatzsuche, Stau und die Wege vom Parkplatz zum Ziel weg.

Wer aggressiv auf dem Zweirad unterwegs ist, fährt sicherer

Doch während laut Randelhoff einzelne Städte wie Berlin, München, Tübingen oder Münster vornewegstrampeln, kann keinesfalls von einer Radrevolution gesprochen werden: „Der Anteil des Rads an allen Wegen in Deutschland wächst kaum.“ Randelhoff zufolge ist das Potenzial in der Bevölkerung nicht ausgeschöpft: „Neongelbe Kleidung, Tempo 25 Kilometer pro Stunde, schneller aggressiver Fahrstil, männlich, 35, auf dem Weg zur Arbeit – das sind die, die sowieso Rad fahren.“ Studien hätten sogar gezeigt, dass Radfahrer mit einer gewissen Aggressivität sicherer in der Stadt unterwegs sind als die aufmerksamen. „Wer gewisse Regeln ignoriert, erhöht die eigene Sicherheit.“

Als Beispiel nennt der Dresdner Verkehrsforscher jene Radwege, die eigentlich auf dem Gehweg verlaufen, zwischen parkenden Autos und Füßgängern: Autofahrer übersehen Radfahrer an Kreuzugen häufig. „Wer diese Radwege ignoriert und sichtbar auf der Straße fährt, lebt sicherer“, sagt Randelhoff.

Was führt bei den Menschen zum Umdenken?

Sollten Radfahrer in Zukunft also mehr Platz auf der Straße bekommen? Das ist umstritten. „Wir müssen uns auch fragen: Wie kriegt man die dazu, die noch nicht Rad fahren?“ Senioren oder Familien mit kleinen Kindern trauen sich eventuell nicht mitten in den Verkehr. „Wir brauchen eine Infrastruktur für Acht- bis Achtzigjährige, die immer sicher ist, die Fehler verzeiht und die attraktiv ist“, ist Randelhoff überzeugt. So hätten die „protective bike lanes“ in New York und Portland das Radverkehrsaufkommen gesteigert: Dabei handelt es sich um breite Wege entlang der Hauptverkehrsachsen, klar vom Autoverkehr getrennt und ausschließlich Radfahrern vorbehalten. Nur, in New York mit seinen drei- bis vierspurigen Straßen ist es einfach, eine Spur für Radfahrer zu reservieren – in vielen Großstädten sieht es anders aus.

Die Stadtentwicklung hinkt noch hinterher

In den Köpfen der meisten Experten sei längst angekommen, dass man Städte nicht vor allem am Autoverkehr ausrichten darf, sagt Marius Gantert vom Institut für Landschaftsplanung und Ökologie der Uni Stuttgart: „Aber Stadtentwicklung ist ein träger Prozess.“ In Berlin würden derzeit die letzten Lücken der Stadtautobahn geschlossen – ein Relikt der Planung der autogerechten Stadt aus den 1960er Jahren. „Durch die Bank weg sind sich Stadtplaner einig, dass es falsch war, wie Städte damals geplant wurden“, so Gantert. Die Verdrängung von Fußgängern und Radfahrern in Unterführungen und auf Brücken, die Schneisen, die Stadtautobahnen in Innenstädte schlagen – all das würde man heute anders machen. Städte wie Kopenhagen hätten das in den 1970er Jahren erkannt und umgesteuert. Dort wird der Parkraum jährlich konsequent um drei Prozent reduziert, um Platz für den Radverkehr zu gewinnen.

Mehr Autoverkehr bringt die Stadt irgendwann zum Erliegen

Vielleicht sollte man mal einen „Autotag“ ausrufen, überlegt derweil Stefan Gössling von der Uni Lund, denn wenn einmal alle gleichzeitig motorisiert unterwegs seien, würden die Autofahrer merken, dass eine Steigerung des Radverkehrs auch in ihrem Interesse sei: „Zehn bis 15 Prozent mehr Autoverkehr bringt eine Großstadt zum Erliegen.“ Gösslings Studie zu den gesellschaftlichen Kosten löste in Skandinavien ein Umdenken aus: Immer mehr Kommunen argumentieren mit den Zahlen, wenn sie die Radwege ausbauen. „Selbst die Autolobby ist vom Ausbau der Radinfrastruktur überzeugt“, sagt Gössling. Auch Autofahrer wüssten, dass ein anderer Weg kaum aus dem Verkehrschaos führt.