Wie kommen Ausländer in der Region Stuttgart klar? Eine Serie über Familien, die in zwei Kulturen zu Hause sind. Heute: die Rougers aus Frankreich.

Stuttgart - Beginnen wir mit den gängigen Klischees: Franzosen schätzen gutes Essen, erlesene Weine und elegante Kleidung. Sie weigern sich, fremde Sprachen zu sprechen. Die Mesdames sind schön, die Messieurs charmant, weswegen deutsche Frauen ihren Verführungskünsten schicksalhaft unterliegen. Stimmt das? Fragen wir bei den Rougers nach.

 

Vor ihrem Einfamilienhaus in dem Stuttgarter Stadtteil Sillenbuch parkt ein alter Volvo. Das Auto war offensichtlich monatelang nicht in der Waschanlage und hat unzählige Dellen im Dach. Das Kennzeichen S-JB  1685, so viel wird am Ende des Besuchs klar sein, setzt sich aus den durcheinandergeratenen Initialen und dem Geburtsjahr von Johann Sebastian Bach zusammen.

Die Tür geht auf, und zwei Mädchen sagen „Bonjour“. Die neunjährige Thaïs lächelt schüchtern, hinter ihr steht ihre Schwester, die elfjährige Heidi. Dann kommt ihr Vater hinzu, Denis Rouger, und sagt mit einem Blick auf den verbeulten Volvo: „Sieht typisch französisch aus, oder? Hat einen Hagelschaden.“ Eigentlich sagt der 55-jährige „Agelschadeen“. „Wir haben für den Wagen nur 1500 Euro bezahlt. Die Dellen sind uns egal“, erklärt seine Frau Christiane, die nun auch aus der Tiefe des Raumes aufgetaucht ist. Die 39-Jährige ist eine gebürtige Ulmerin, die lange in Frankreich gelebt hat.

Als Christina, die damals noch den Nachnamen Ortwein trägt, mit 19 Jahren in die Stadt der Liebe zieht, tut sie das eigentlich nicht der Liebe wegen, sondern um an der Sorbonne Musik zu studieren. Doch auf der Universität am linken Seine-Ufer lernt sie den jungen Professor Denis Rouger kennen. Schnell ist um beide geschehen, das binationale Paar zieht zusammen und heiratet. 2006 kommt Heidi auf die Welt, zwei Jahre später Thaïs.

Ihr fehlt der Duft der großen, weiten Welt

Etwa zu dieser Zeit bekommt Denis Rouger zu spüren, dass der französische Staat sparen muss. „Ich konnte meinen Schülern nicht mehr die beste Ausbildung bieten“, sagt er rückblickend. Als 2012 an der Stuttgarter Musikhochschule eine Professur für Chorleitung frei wird, entschließt sich die Familie, ihre 75- Quadratmeter-Wohnung am Rande von Paris aufzugeben und ins Schwäbische zu ziehen. „Mich hat Deutschland schon immer angezogen und fasziniert – es ist ein Musikland“, sagt Denis Rouger. „In Frankreich ist diese Tradition nach der Revolution verloren gegangen. Musik wurde immer unbedeutender.“

Anfangs war seine Frau Christina skeptisch. Sie mochte das Durcheinander in der französischen Hauptstadt, die Mentalität, das Essen, die Art, sich zu kleiden, und die Mischung an Gerüchen, wenn sie durch die Straßen von Paris lief: Im indischen Viertel bekam sie Lust auf ein Gericht mit Curry, und sobald sie im chinesischen Viertel war, roch es nach gebratenen Nudeln. Diesen Duft der großen, weiten Welt vermisst Christiane Rouger. „Aber mir war klar, dass mein Mann sich in Stuttgart beruflich voll ausleben kann“, sagt sie.

Musik steht bei der Familie Rouger an erster Stelle. Das Wohnzimmer dominiert ein Flügel, daneben stehen zwei Notenständer. Die Ecken besetzen mächtige Lautsprecherboxen, auf denen CDs zu Türmen gestapelt sind. An der Wand hängt ein Notenblatt von Bachs „Ciaccona“. Jede freie Zeit nutzt die Familie zum gemeinsamen Musizieren. Oft komponiert Denis Rouger für seine Kinder selbst Lieder, die sie mit Cello und Violine üben.

Mehr Unterricht und zusätzliche Hausaufgaben

Thaïs und Heidi sind in Paris zweisprachig aufgewachsen. Deswegen hatte ihre Mutter eine Bedingung, die sie an den Umzug vor fünf Jahren nach Stuttgart knüpfte: Ihre Töchter müssen auf Schulen mit einem französischsprachigen Zweig gehen. Heidi ist nun auf dem Wagenburg-Gymnasium in der sechsten Klasse der französischen Abteilung, Thaïs besucht die dritte Klasse der deutsch-französischen Grundschule in Sillenbuch. Beide Schulen arbeiten mit dem französischen und dem baden-württembergischen Lehrplan. Wenn die Thaïs und Heidi bis zur zwölften Klasse die Bildungsvorgaben aus beiden Ländern erfüllen, können sie sowohl das Abitur als auch das französische Pendant, das Baccalauréat, machen.

Das bedeutet: mehr Unterricht und zusätzliche Hausaufgaben. Bis zur dritten Klasse werden beinahe alle Fächer auf Französisch unterrichtet, erst dann wird Deutsch paritätisch verwendet. Catherine Koudou, die Direktorin der französischen Abteilung der Grundschule in Sillenbuch, setzt auf strenge Disziplin: „Wenn deutsche Eltern sich von ihren Kindern vor der Schule verabschieden, sagen sie ‚Habt viel Spaß!‘. In Frankreich sagen wir ‚Travaille Bien!‘, also ‚arbeite gut‘.“

Christiane Rouger ist bewusst, dass sie von ihren Töchtern einiges verlangt. „Manchmal frage ich mich schon, ob es richtig ist, dass sie so viel machen müssen“, sagt sie. „Aber dann denke ich wieder, was für ein Glück die beiden haben, zwei Sprachen so gut zu beherrschen.“ Im Alltag funktioniert das beispielsweise so: Thaïs fragt erst ihre Mutter auf Deutsch, ob sie zum Inlineskaten rausgehen darf. Fünf Minuten später kommt sie zurück und sagt ihrem Vater auf Französisch, dass sie wieder da sei. „Als Heidi klein war, dachte sie immer, sie müsse alles übersetzen“, erzählt Christiane Rouger. „Oft hat sie meinem Mann etwas auf Französisch gesagt und es gleich für mich auf Deutsch wiederholt.“ Untereinander sprechen die Kinder meistens Deutsch. „Aber wenn uns ein Wort nicht einfällt, sagen wir es einfach auf Französisch – das ist praktisch“, sagt Heidi.

Aus der Banlieue in eine heile Welt

Früher, in der Pariser Vorstadt, durften die Mädchen nie alleine auf die Straße. Bei all den Drogensüchtigen und Kleinkriminellen, die sich dort tummeln, wäre das zu gefährlich gewesen. Sillenbuch ist völlig anders, jeder kennt jeden in der Wohnsiedlung. Im Vergleich zu den Banlieue-Verhältnissen leben die Rougers nun in einer heilen Welt. „Die Gastfreundschaft, mit der wir empfangen wurden, hat mich beeindruckt“, erzählt er. „Nachbarn schenkten uns zum Einzug Brot und Salz. Stuttgart war sofort mein zweites Zuhause.“

Die Rougers begrüßen jeden Gast, selbst Menschen, die sie zuvor nur flüchtig kennengelernt haben, mit einem Küsschen auf die linke und einem Küsschen auf die rechte Wange. Anfangs hätten manche auf dieses französische Ritual irritiert reagierte. „Sie wurden ganz steif und haben sich gefragt, was jetzt passiert“, sagt Christiane Rouger. Ihr Mann küsste trotzdem konsequent weiter – und inzwischen haben sich alle Bekannten daran gewöhnt.

Natürlich gibt es Dinge, die die Familie vermisst. Croissants und Baguette, die diese Bezeichnungen verdienen, bekommen schwäbische Brezelbäcker nach einhelliger Meinung der Rougers nicht hin. Denis Rouger fehlen zudem die Restaurantbesuche mit vier Gängen, die er mit seinen französischen Kollegen in seiner Mittagspause genossen hat. Besonders gerne mochte er den Rôti de Bœuf, einen Rinderbraten mit Schalottensoße, und als Nachtisch ein Schokoladensoufflé. In Stuttgart geht er immer ins Gasthaus Zum Becher und isst Kässpätzle oder Maultaschen.

Ein schwäbisches Klischee

Abends wird – wie in Paris – warm gekocht: Wenn sich die Klassenkameradinnen von Thaïs und Heidi bereits die Zähne für die Nacht putzen, nehmen die beiden Mädchen mit ihren Eltern am Esstisch für ein opulentes Mahl Platz. Die Erwachsenen trinken dazu ein Glas Saint-Julien, einen Rotwein aus dem Anbaugebiet Bordeaux. „Wir könnten nie bei Aldi einkaufen – das ist für uns einfach nicht denkbar“, sagt Christiane Rouger. Freilich sinkt die Bereitschaft, für gutes Essen gutes Geld auszugeben, auch westlich vom Rhein: Allein 900 Aldi- und 1500 Lidl-Discountmärkte gibt es mittlerweile in Frankreich – Tendenz stark steigend. Die Geiz-ist-geil-Mentalität scheint das kulinarische Savoir-vivre zu verdrängen. Christiane Rouger nennt diese Entwicklung „schockierend“. In Paris habe sie ihre Lebensmittel auf dem Markt, in der Metzgerei oder in Bioläden gekauft. Und so mache sie es selbstverständlich auch in Sillenbuch.

Und wie sieht es mit Kleidung aus? Die deutsche Mode beschreibt Christiane Rouger als „praktisch und bequem“, was wohl eine euphemistische Beschreibung dafür ist, dass sie ihr nicht gefällt. Textilien für sich selbst kaufe sie meistens in Frankreich ein, da sie dort „einfach eleganter“ seien, sagt sie. Und Schuhe könne sie in Deutschland generell nicht kaufen: „Thaïs und Heidi haben zu schmale Füße.“ Allerdings tragen die Mädchen nicht nur französische Mode, sondern häufig selbst genähte Sachen – hergestellt von ihrer Ulmer Großmutter.

Womit das Gespräch bei einem schwäbischen Klischee gelandet ist: dem Fleiß. Der Pariser gilt ja als jemand, der lieber das Leben genießt, als zu schaffen und Häusle zu bauen. Nun ja, antwortet Denis Rouger, es sei wohl so, dass die Schwaben penibler arbeiteten. Während er in Paris drei Monate vor einem Konzert mit den Vorbereitungen angefangen hat, müsse er in Stuttgart beispielsweise ein ganzes Jahr im Voraus planen. „Daran musste sich Denis erst gewöhnen“, sagt Christiane Rouger.