Bundesweit verursachen Ladendiebe Schäden in Milliardenhöhe. In der Landeshauptstadt sinken die Fallzahlen in der ersten Jahreshälfte 2017 im Vergleich zum Vorjahr deutlich.

Lokales: Christine Bilger (ceb)

Stuttgart - „Man hat es ihm nicht angesehen“, sagt Barbara Burger von der Boutique Abseits am Kleinen Schlossplatz. Ein älterer Herr, gut gekleidet, sei in die Boutique gekommen, und habe zwei Teile aus der aktuellen Kollektion eingesteckt. Wie er trotz Warensicherung rauskam, ohne den Alarm auszulösen, weiß die Assistentin des Boutiqueinhabers Willi Klenk nicht. Aber sie weiß, dass ihre Kollegen auf Zack waren: Sie hatten den Mann dank der Aufnahmen der Überwachungskamera als Langfinger identifiziert. „Als er wieder kam, wollten wir ihn stellen“, berichtet Barbara Burger. Was sie dann erzählt, hat Krimiqualität: Zwei Kollegen versuchen, die Tür zu versperren. Der mutmaßliche Dieb wittert die Falle. Er ergreift die Flucht, es kommt zum Gerangel, er geht mit einem Mitarbeiter zu Boden – und doch entkommt der Verdächtige. „Das war dramatisch. Aber seither haben wir ihn nie wieder gesehen“, sagt Barbara Burger.

 

Einer unter Tausenden Ladendieben ist so vertrieben worden. Doch die wenigsten Langfinger lassen sich offenbar bei ihren Beutezügen nach teuren Markenklamotten oder Parfums vom beherzten Einschreiten des Personals oder von ständig mehr Sicherheitstechnik abschrecken. „Es wird immer schlimmer“, klagt Sabine Hagmann, die Geschäftsführerin des Handelsverbandes Baden-Württemberg. Sorgen bereite ihr vor allem die „zunehmende Brutalität der organisierten Diebesbanden“, fügt sie hinzu. „In einem Fall wurde eine Verkäuferin mit dem Kopf gegen eine Eisentür geschlagen und erlitt einen Schädelbasisbruch“, nennt sie ein Beispiel aus dem Land.

„Ladendiebe immer dreister und brutaler“

Die aktuelle Studie des Kölner Handelsforschungsinstituts EHI kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass die Ladendiebe „immer dreister und brutaler werden“, melden die Wissenschaftler in ihrem am Dienstag vorgelegten Werk zur Situation im Jahr 2016. Die Auswertung der Statistiken und der Inventurdifferenzen für das vergangene Jahr ergab laut dem EHI einen Schaden in Höhe von rund 3,4 Milliarden Euro für die Händler in Deutschland. Das entspricht in etwa dem Vorjahresniveau. Bei etwa der Hälfte der Ladendiebstähle handele es sich um Bagatelldelikte mit Waren im Wert von unter 15 Euro.

Die Branche setzt auf die elektronische Sicherung ihrer Produkte und auf eine verstärkte Überwachung. Doch wo mehr Wachpersonal ist, das die Langfinger erkennt und stellt, kommt es auch zu mehr Konflikten: „Die schlagen zu, wenn man sie stellt“, berichtet Sabine Hagmann, was die Mitglieder ihres Verbandes aus dem Alltag schildern. „Von uns kommt daher der eindeutige Rat: Spielt bloß nicht den starken Max, wenn Ihr einen erwischt“, fügt sie hinzu. So sehr der materielle Schaden auch schmerze, so wenig dürfe man deswegen die eigene Gesundheit riskieren. „Mir wurde auch ein Fall berichtet, da zückte ein Dieb eine Spritze, in die er sein Blut aufgezogen hatte, damit bedrohte er einen Mitarbeiter. Da weiß man ja auch nicht, was da alles passieren kann“, schildert die Geschäftsführerin Hagmann.

Diebe haben es vor allem auf Parfums und Kleidung abgesehen

Die Stuttgarter Polizei verzeichnete im vergangenen Jahr einen Rückgang der Delikte um knapp 8 Prozent auf rund 3500 Fälle. Aktuell sehe es für das laufende Jahr gut aus: „In den ersten fünf Monaten haben wir einen deutlichen Rückgang“, sagt der Polizeisprecher Olef Petersen. Um gut zehn Prozent seien die Fallzahlen gesunken. Eine zunehmende Brutalität könnten seine Kollegen vom zuständigen Dezernat nicht bestätigen. „Dass sich jemand wehrt, der erwischt wird, das hat es immer schon gegeben, das ist unser Eindruck“, sagt Petersen. In die Statistik gehen diese Fälle als räuberischer Diebstahl ein, wenn es zu einem Gerangel mit dem Personal komme. „In diesem Deliktfeld ist die Tendenz in Stuttgart sogar leicht rückläufig“, sagt Olef Petersen. Die Diebe hätten es vor allem auf Parfums und Kleidung abgesehen. In den zurückliegenden Jahren seien es überwiegend Banden aus Rumänien und Georgien gewesen, die beim Ladendiebstahl auffallen. Inzwischen würde man auch vermehrt Algerier ertappen, auch Syrer würden immer wieder auffallen. Die Asylbewerber seien jedoch offenbar nicht in organisierte Strukturen eingebunden, deren Taten fallen vermutlich in die Kategorie der Armutsdelikte.

Aussagen über die Täter könne man natürlich nur machen, wenn die Diebe gefasst werden beziehungsweise wenn eine Anzeige erfolgt. Die Studie des Handelsforschungsinstituts kommt zu dem Schluss, dass die offiziellen Zahlen von 378 000 Ladendiebstählen, die laut dem Bundeskriminalamt angezeigt wurden, nur „die Spitze des Eisbergs“ seien. Vor allem die Zahlen der schweren Delikte habe sich in den vergangenen neun Jahren fast verdreifacht. Rund 26 Millionen Ladendiebstahlsdelikte mit einem durchschnittlichen Warenwert von 83 Euro seien in diesem Zeitraum unentdeckt geblieben. Auch die Polizei geht von einer hohen Dunkelziffer aus, bei der man folglich nicht sagen kann, ob die Waren von Kunden oder Mitarbeitern entwendet wurden.

Verstärkte Sicherheitsvorkehrungen

Die Branche reagiert mit verstärkten Sicherheitsvorkehrungen. Nach Beobachtungen des Sicherheitsdienstleisters Checkpoint arbeiten ganze Banden von Profi-Dieben in den Läden mittlerweile nach einem festen System. Ausgerüstet mit folienbeschichteten Taschen oder derart gefütterten Mänteln versuchten Diebe, den an der Eingangstür drohenden Alarm durch die Sicherungsetiketten zu umgehen. Daher rüsteten nun immer mehr Händler auf, erklärt der Warensicherungsexperte des US-Unternehmens, Hans-Jürgen Nausch. Insbesondere Baumärkte und Lebensmittelhändler investierten nun in neue Sicherungstechnik, während dies im Elektronikhandel und in Modeläden heute schon weit verbreitet sei. Aktueller Trend dabei sei es, die früher eher versteckten Sicherungseinrichtungen nun offen zu zeigen, um so die Diebe abzuschrecken. Es gehe darum, diese zu verunsichern und zu vertreiben, statt sie zu fangen.

Eine noch stärkere Sicherung etwa mit Produkten hinter Glas sei dagegen nicht im Sinne der Einzelhändler, die in Konkurrenz zum Onlinehandel auf eine möglichst attraktive Präsentation setzen müssten.

Für die Boutique Abseits am Kleinen Schlossplatz in der Stuttgarter City steht jetzt schon fest, dass sie im Weihnachtsgeschäft aufstocken wird. „Dann werden wir Sicherheitskräfte am Eingang postieren. Nicht dauerhaft, aber für die Adventszeit auf jeden Fall“, sagt Barbara Burger.