Die wechselhafte Wahrnehmung des Bismarckplatzes im Stuttgarter Westen spiegelt den unsicheren Umgang mit öffentlichem Raum wider– eine feine Ironie der Geschichte inbegriffen.

S-West - Öffentliche Plätze sind mit das Beste, was uns die europäische Stadt zu bieten hat. Zwanglos kreuzen sich die Wege der Menschen, bietet sich Platz zur Kommunikation oder auch, um ganz für sich und doch unter anderen zu sein. Im Kern ist ein öffentlicher Platz das Stadtraum gewordene Angebot zu einer offenen Gesellschaft. Ob die Verantwortlichen das im Hinterkopf hatten, als sie in den 1860er Jahren die Planung zur Aufsiedlung des Westens in Angriff nahmen – und dabei drei Flächen frei halten wollten von jeglicher Bebauung? Eine davon das Areal mit und um den heutigen Bismarckplatz. Übrigens gegen den Druck der Grundstückseigentümer, denen damit eine immobiliäre Höherverwertung versagt blieb!

 

Eine historische Postkarte, wohl aus dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, ließe das vermuten. Die kolorierte „Partie b. d. Bismarckplatz“ wirkt mit den paar zersprengten Pferdefuhrwerken und weitläufig verteilten Menschen und Grüppchen wie das Genrebild einer pittoresken bürgerlichen Szenerie im öffentlichen Raum, wobei die 1901 eingeweihte Elisabethenkirche den Mittelpunkt der städtischen Kulisse bildet. Verblüffend, wie leicht sich dieses Geschehen noch in die Luftaufnahme aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts hineindenken lässt. Wer heute aber die Örtlichkeit als sichtbar funktionierenden „Platz“ bezeichnete, der könnte sich mit dieser Ansicht gleich neben Wilhelm den Einsiedler in der anliegenden Kirche gesellen. Denn mit der Automobilisierung der Stadt in der Nachkriegszeit wurden die Zeichen ganz auf Verkehr gestellt.

Monumentaler Kreisverkehr

Vorgeprägt war die Platzvernichtung schon, als sich der Gemeinderat 1901 erstmals mit dem Areal befasste und befand, dass sich der Bismarckplatz „zufolge der mannigfach ihn durchschneidenden Straßen als Verkehrsplatz zu betrachten“ sei. Gleichwohl erfolgte diese Kerndefinition der Nutzung mit einer Spur schlechten Gewissens, denn das Areal sollte, „soweit möglich, auch dem Erholungsbedürfnis der Umgebung dienen“. Abstand genommen wurde aber von dem Plan, die sich kreuzenden Straßen in einem monumentalen Kreisverkehr zu fassen. Das hätte die geplante Straßenbahn gehindert, deren Schienen sich in der historischen Luftaufnahme wie ein Zwillingspaar schnurgerade durchs Bild ziehen.

Doch mit der Bahn war schon 1972 wieder Schluss. Sie musste zwecks Beschleunigung des Individualverkehrs Bussen weichen. Eine Maßnahme, die auch die Unsicherheit und Ambivalenz spiegelt, mit der die Stadtplanung die fast hundert mal hundert Meter große Fläche im Laufe der Jahrzehnte angefasst hatte. Denn mit dem Rauswurf der Stadtbahn wurde wieder mehr Grünfläche geschaffen, das südöstliche Dreieckle spitz nach Süden gezogen, wurden sogar Teile von Straßen aufgehoben, etwa die untere Bismarckstraße.

Dies war der erste Ansatz zu einer Korrektur des Konzeptes der autogerechten Stadt, die den Platz zehn Jahre zuvor mit insularen Resten bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt hatte: In einer Doppelkreuzung waren die Elisabethen-, Vogelsang- und Bismarkstraße über die Schwabstraße gezogen worden, von der zudem eine formidable Rechtsabbiegespur abzweigte. Aufenthalt war hier nicht mehr vorgesehen, Fußgänger wurden immerhin mit einem ganzen Sack voll Zebrastreifen bedacht, der über das Areal ausgeschüttet wurde. Neun an der Zahl.

Radikale Neudefinition

Feiner könnte die Ironie der Geschichte kaum sein, wenn diese vor einem halben Jahrhundert mit der Streubüchse verteilten Querungshilfen nun mit „Stuttgart 28“ in einem „langen Zebrastreifen“ gebündelt werden, um so den Verkehr auf der den Platz durchschneidenden Schwabstraße auf zwei Spuren zu bannen: Ausgangspunkt einer radikalen Neudefinition des Areals als öffentlicher Raum. Sinnbildlich wird der Perspektivwechsel auch im Umgang mit der Topografie, der wegführen wird von der Straßenschneise – und in der Drehung um 90 Grad die Ausrichtung zurückführt zur Elisabethenkirche.

Das gemahnt an die erwähnte historische Postkarte – und ist zugleich eine Menge mehr: Als „Platz im Platz“ ein klar bestimmter öffentlicher Raum im Sinne einer europäischen Stadt, mit der Randung zugleich durchlässig für die von den Rändern her längst erfolgte Belebung durch die bunte Bistro-, Café- und Restaurant-Szene. Ein Zugewinn an Lebensqualität, mit dem der Westen stadträumlich gewinnt, was schon an seinem Beginn angedacht war: einen Platz, der seinen Namen verdient. Der Bismarckplatz wird also weiter Geschichte machen.

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