Der Fotograf Benjamin Seyfang sucht verlassene Orte auf und schafft poetische Bilder, die die Fantasie beflügeln. Bis 1. Juli sind sie in der Galerie von Thomas Geuder zu sehen.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

S-West -

 

Kanalisationen und Katakomben

Eine Art Eishauch der Geschichte erfasst Benjamin Seyfang, wenn er mit seiner Spiegelreflexkamera längst verlassene Gebäude durchstreift. „Man fängt das Leben ein, das dort mal gewesen ist“, so der 29-Jährige über sein obsessives Hobby, verlassene Orte zu porträtieren. Ein „kindlicher Forscherdrang“ treibe ihn an. Seine Bildbeute präsentiert Seyfang derzeit in der Raumgalerie von Thomas Geuder in der Ludwigstraße.

Benjamin Seyfang hat die Lost-Place-Fotografie nicht erfunden. Vielmehr ist er Teil einer wachsenden Szene, in der sich auffällig viele Autodidakten tummeln. Auch Seyfang hat sich die Fotografie selbst beigebracht, von Beruf ist er Abwassertechniker in einem Klärwerk. Die Lost-Place-Szene ist nur eine Gattung in der großen Familie der Urban Explorer – kurz: Urbex. Das sind Leute, die auf eigene Faust den städtischen Raum erforschen. Besonderes Augenmerk legen sie dabei auf leerstehende Gebäude wie Villen, Schlösser, Industrieruinen und andere verlassene oder unzugänglicher Orte wie Kanalisationen, Katakomben oder Dachlandschaften. Deren fotografische Dokumentation ist das noch junge Genre der Ruinen-Fotografie, wie sie auch Seyfang betreibt. „Für mich“, sagt er, „sind diese Orte Zeitreisen.“

Der Antrieb der Fotografen scheint eine Mischung aus romantischem Eskapismus und Abenteuerlust zu sein. Für die meisten Urbexer liege die Motivation neben der Entdeckung und Dokumentation der Objekte, „in der Ästhetik und Romantik, die jene Orte mit sich bringen sowie im Erlebnis einer authentisch-historischen Atmosphäre“, heißt es im Onlinelexikon Wikipedia. Details werden auf ihren Aufnahmen zu Metaphern der Vergänglichkeit. Die Fotografen lieben diesen Gänsehaut-Effekt: „Manchmal betrete ich Gebäude, die wirken wie eine Zeitkapsel, die ihre Geschichte geradezu gefangen halten“, sagt Sven Fennema, ein namhafter und ebenfalls autodidaktischer Vertreter der Szene. Verwilderung und Verfall werden als wohltuender Kontrast zur herrschenden städtebaulichen Ordnung empfunden.

Benjamin Seyfang sagt: „Ich schalte komplett ab an so einem Ort. In einer Zeit, wo so viel auf einen einströmt, ist das extrem wohltuend.“ Für die Spanne ihrer wilden Exkursionen entfliehen die Urbex der angestammten Zivilisation. Zugleich befriedigen die Fotografen auf ihren Touren ihre Abenteuerlust. Denn oft ist der Weg zu den Orten beschwerlich. Dem Abenteuerlustigen aber winken am Ende der Reise „vergessenen Schätze früherer Zeiten“, wie es beispielsweise im Internet auf den Szenetreff-Seiten von fotocommunity.de heißt.

Fotografen-Risiko: Hausfriedensbruch

Wie alle Abenteuer birgt jedoch auch die Lost-Places-Fotografie Risiken – insbesondere juristischer Art. Denn Urban Exploration ist meistens Hausfriedensbruch, obwohl Urbexer weder stehlen noch zerstören. Im besten Falle machen ihre Fotos auf ein Kleinod erst aufmerksam, um das sich dann andere kümmern. Im schlimmsten Fall muss ein Fotograf Schadenersatz zahlen, wenn sich die Veröffentlichung seiner Bilder negativ auf ein Objekt auswirken.

Diesen Risiken gehen Benjamin Seyfang und andere Fotografen lieber aus dem Weg, indem sie genehmigte Erkundungstouren buchen. Sie werden unter anderem von Organisationen wie den Vereinen Berliner Unterwelten, von go2know GmbH oder Unterirdisches Zeitz angeboten. Da geht es dann beispielsweise zum Gefängnis Köpenick, in die Heilstätten in Hohenlychen, in ein altes Hotel, eine einstige Elite-Schule oder in eine ehemalige Brikettfabrik.

Aufregender ist es natürlich, selbst Orte zu entdecken, nach Jahrzehnten der Erste zu sein. Vergangenen Sommer ist Seyfang durch den Balkan gereist, um verlassene Orte zu finden – und durch den deutschen Südwesten, wo er eine Entdeckung machte: Unter der Erde fand er einen alten Jazzclub, der bereits in den 1980er Jahren dicht gemacht hat und in einem ehemaligen Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg residierte. Seyfangs Exkursion in die Tiefen gingen ausgedehnte Recherchen im Stadtarchiv voraus. Der offizielle Eingang war seit einer Ewigkeit zugemauert. Der Fotograf studierte Pläne und fand an einem Bach einen Zugang zu dem Tunnelsystem unter der Stadt, durch das er in den Jazz-Bunker gelangte. Auf seinen Fotos sieht es so aus, als sei die Party eben erst zu Ende gegangen. Bierflaschen stehen herum, ein Schild informiert die längst verschwundenen Gäste: „Wer reihert: fünf Mark!“