Der 17-jährige Tatverdächtige im Freiburger Mordfall hatte das Glück, dass er in einer Pflegefamilie untergebracht wurde. Denn das ist eher die Ausnahme im Hilfesystem. Die meisten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge leben in Heimen oder Wohngruppen.

Freiburg - Der 17-jährige Afghane, der unter dem dringenden Tatverdacht steht, in Freiburg die Studentin Maria L. vergewaltigt und ermordet zu haben, ist ohne Eltern nach Deutschland gekommen. Als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling ist er über einen Träger der Jugendhilfe an eine Freiburger Pflegefamilie vermittelt worden. Die Vormundschaft für den Jugendlichen, der im November 2015 bei Weil am Rhein über die Grenze nach Deutschland gekommen war, obliegt aber beim Kreis Breisgau-Hochschwarzwald.

 

„Eine Pflegefamilie ist grundsätzlich ein sehr positives Modell“, sagt Thorsten Culmsee, der Leiter der Aufnahmebehörde im dortigen Landratsamt, da habe man nicht nur aus Integrationsgesichtspunkten heraus gute Erfahrungen gemacht. Von den 181 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, für die der Kreis zuständig ist, sind die meisten in betreuten Wohngruppen, Heimen oder anderen Einrichtungen untergebracht – lediglich 13 leben in einer Pflegefamilie. Mit dem betroffenen Träger, dessen Namen Culmsee nicht nennen will, habe man in den vergangenen Jahren stets vertrauensvoll zusammengearbeitet.

Die Familien, die sich bereit erklärten, einen Flüchtling aufzunehmen, würden standardmäßig überprüft, versichert Culmsee. Da gehe es um Fragen wie: Eignet sich die Familie? Stimmt das häusliche Umfeld? Ebenso sorgfältig verlaufe das asyl- und aufenthaltsrechtliche Clearingverfahren, bei dem der Flüchtling ausführlich befragt werde. Dabei werde auch seine gesundheitliche Situation geklärt und Hilfe aller Art vermittelt. „Ein traumatisierter Jugendlicher kann bei Bedarf auch eine mehrmonatige Psychotherapie erhalten“, versichert Culmsee.

Mal wird das Pflegekind abgeschoben, mal tauchen die leiblichen Eltern wieder auf

Überzeugt vom Modell der Pflegefamilie ist auch Lucas-Johannes Herzog, der Leiter der Abteilung Erziehungshilfen beim Stuttgarter Jugendamt. „Es ist eine mühsame Arbeit, die geeignete Familie zu finden“, sagt er, aber eine, die sich auf jeden Fall lohne. Deshalb habe die Kommune viel Werbung dafür gemacht und die Interessenten aufgeklärt. Die Erwartungen der Gasteltern seien oft völlig falsch. „Sie denken, Sie bekommen ein kleines syrisches Kind, dabei geht es um Jugendliche“, sagt Herzog. Ein Blick auf die Statistik zeigt, dass rund drei Viertel der 8266 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Baden-Württemberg bereits 16 oder 17 Jahre alt und fast ausschließlich männlich sind. Sie reisen meist ohne Papiere in Deutschland ein und kommen vorwiegend aus Afghanistan, aber auch aus Ländern wie Syrien, Somalia, Eritrea oder Gambia.

Glasklar unterscheidet Herzog zwischen der klassischen Pflegefamilie, die auf lange Zeit ein Kind aufnimmt, und der Gastfamilie, die sich für einen Flüchtling aus einem anderen Kulturraum öffnet. „Da gibt es kaum eine Schnittmenge.“ Letztere müsse mit mehr Fragezeichen und Ungewissheiten leben. Mal tauchten unvermittelt die leiblichen Eltern auf, mal werde der Flüchtling überraschend abgeschoben. „Es ist ein unsicherer Verbleib“, betont der Abteilungsleiter, „es geht nicht so sehr um die enge Bindung, aber dennoch ist der Betreuungsaufwand sehr hoch.“

Die Unterbringung in einer Pflegefamilie ist die Ausnahme

In Stuttgart leben 18 junge Flüchtlinge in Pflegefamilien. Die Gasteltern erhalten, abhängig vom Alter des Zöglings, bis zu 1000 Euro im Monat. „Wir mussten bisher nur ein einziges Mal das Pflegeverhältnis beenden“, sagt Herzog, „da hat es Konflikte zwischen der leiblichen Tochter und dem 16-jährigen Flüchtling gegeben.“ Die Familien würden engmaschig begleitet, bestätigt Herzog. Der Kontakt zum Pflegefachdienst des Amts sei intensiv, verbindlich sei alle drei Monate auch eine Hilfeplanung in einer großen Runde. Bei traumatisierten Jugendlichen werde versucht, nach Kräften Zusatzhilfe zu ermöglichen. „Eine Einzeltherapie zu vermitteln ist allerdings aus Kapazitätsgründen schwierig, da muss man sehr kreativ sein“, gibt Herzog zu.

Die Unterbringung der Flüchtlinge in einer Pflegefamilie sei nach wie vor die Ausnahme, sagt der Fachmann vom Stuttgarter Jugendamt. Üblicherweise wohnten die Kinder und Jugendlichen in Einrichtungen unterschiedlicher Träger der Jugendhilfe. „Die Unter-18-Jährigen haben eine viel bessere Betreuung als die Älteren“, betont Herzog. Sie kommen nicht in die großen Sammelunterkünfte, sondern haben Einzel- oder Doppelzimmer. Sie werden in ihren Wohngruppen von Sozialpädagogen betreut, ihr Tagesablauf ist durchstrukturiert. Gemeinsam wird ein Freizeitprogramm erarbeitet, vom Sprachkurs bis zur Hausaufgabenhilfe ist alles an Unterstützung möglich. Wenn die Jugendlichen 18 Jahre alt werden, fallen sie noch lange nicht aus dem System heraus. In der Regel erhalten sie so lange weiter Hilfe, bis sie selbstständig genug sind, um ihren Alltag allein zu meistern.

Die Quote

Quotenregelung:
Seit November 2015 werden unbegleitete minderjährige Ausländer (UMA) über eine Quotenregelung bundesweit nach dem Königsteiner Schlüssel verteilt. Zuvor galt das Prinzip der Unterbringung am Ankunftsort. Lange hat nur ein kleiner Teil der rund 600 Jugendämter in Deutschland unbegleitete Minderjährige aufgenommen, inzwischen ist die Betreuung gerechter verteilt. Die für Baden-Württemberg errechnete Quote wird seit Mitte August 2016 erfüllt. Seit diesem Zeitpunkt ist Baden-Württemberg im Rahmen des bundesweiten Verteilverfahrens vom Aufnahme- zum Abgabeland geworden.

Ausbau:
Von den bundesweit fast 64 000 jungen Flüchtlingen leben zurzeit 8266 in Baden-Württemberg. Im Laufe der vergangenen zwölf Monate hat sich ihre Zahl im Südwesten mehr als verdoppelt. Der Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS) verteilt die jungen Menschen auf die Stadt- und Landkreise, die ihre Kapazitäten zur Unterbringung massiv ausweiten mussten. „Durch gemeinsame Anstrengungen öffentlicher und freier Jugendhilfeträger ist es trotz der erheblichen Steigerung gelungen, die Jugendlichen bis heute in der regulären Kinder- und Jugendhilfe zu betreuen“, sagt der Verbandsdirektor Roland Klinger. Einerseits wurden die vorhandenen Puffer in den Einrichtungen genutzt, andererseits wurden seit Anfang 2014 mehr als 2000 zusätzliche Plätze geschaffen.

Einzelfall
: Wenn die Jugendämter die Kinder und Jugendlichen in Obhut nehmen, machen sie keinen Unterschied zu Kindern deutscher Herkunft. Sie werden in regulären Angeboten betreut wie etwa in Kinder- und Jugendheimen, betreutem Jugendwohnen, in Wohnheimen oder Pflegefamilien. Dabei wird in jedem Einzelfall geprüft, welche Hilfen die jungen Menschen brauchen und wie hoch der erzieherische Bedarf ist.