„Willkür“ und Stigmatisierung von Staatsbediensteten - Amnesty kritisiert die Massenentlassungen in der Türkei. Unterdessen werden zwei entlassene Akademiker im Hungerstreik in Ankara festgenommen.

Istanbul - Mit den Massenentlassungen von Staatsbediensteten per Notstandsdekret verstößt die türkische Führung nach Ansicht von Amnesty International gegen Menschenrechte. In einem am Montag veröffentlichten Bericht kritisierte die Organisation die Entlassungen als „willkürlich“. Die Betroffenen und ihre Familien würden zudem als „Terroristen“ stigmatisiert. Viele fänden nicht noch einmal Arbeit und hätten Schwierigkeiten, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

 

Zwei Akademiker, die sich aus Protest gegen ihre Entlassungen seit 75 Tagen im Hungerstreik befinden, wurden unterdessen bei einer Razzia in der Ankara festgenommen. Mehrere Unterstützer wurden laut Medienberichten bei anschließenden Protesten in der Hauptstadt am zentralen Menschenrechtsdenkmal festgenommen.

Die Dozentin Nuriye Gülmen und der Grundschullehrer Semih Özakca nehmen seit dem 9. März nur Wasser, Zucker, Salz und Vitamin B zu sich. Onur Naci Karahanci von der türkischen Ärztekammer in Ankara warnte, in Polizeigewahrsam würde sich der Gesundheitszustand der stark geschwächten Akademiker voraussichtlich weiter verschlechtern. „Sie benutzen dort Toiletten mit anderen, das Belüftungssystem ist schlecht und sie können sich nicht ausruhen. Es gibt daher eine sehr ernsthaftes Risiko für Infektionen“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur.

Mehr als 100 000 Staatsbedienstete entlassen

Gülmen und Özakca hätten angekündigt, auch auf Wasser und Zucker zu verzichten, sollten sie nicht bald freigelassen werden. „Wenn es dazu kommt, halten sie nicht mehr lange durch“, sagte Karahanci. Auch die Mutter und die Ehefrau von Özakca seien am Montag in den Hungerstreik getreten.

Die Zeitung „Cumhuriyet“ meldete unter Berufung auf den Anwalt Selcuk Kozagacli, die Behörden hätten als Grund für die Festnahme angegeben, dass „die Aktion zu einem Todesfasten werden könnte“ und Anlass für Demonstrationen ähnlich der regierunskritischen Gezi-Proteste im Jahr 2013 geben könnte. Der Türkei-Experte von Amnesty International, Andrew Gardner, nannte die Festnahmen „inakzeptabel“ und forderte eine sofortige Freilassung der Akademiker.

Gülmen und Özakca sind zwei von mehr als 100 000 Staatsbediensteten, die Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 per Dekret entlassen hatte. Ihnen werden angebliche Verbindungen zur Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen vorgeworfen, den die türkische Führung für den gescheiterten Putsch verantwortlich macht.

Verdacht auf Willkür

In ihrem Bericht kritisierte Amnesty, die Behörden hätten in keinem der untersuchten 33 Fälle individuelle Begründungen für die Kündigungen geliefert. Das erhärte den Verdacht, „dass zahlreiche Entlassungen willkürlich, ungerecht und/oder politisch motiviert“ gewesen seien.

Die Maßnahmen verletzten unter anderem das Menschenrecht auf ein ordnungsgemäßes Verfahren und missachteten das Diskriminierungsverbot von Zehntausenden Menschen. Darunter seien Militärs, Polizisten, Richter, Lehrer, Akademiker und Ärzte. Da die Reisepässe der Betroffenen in vielen Fällen für ungültig erklärt worden seien, könnten sie auch das Land nicht verlassen.

Weiter bemängelte Amnesty, es sei unmöglich, die Entlassungen vor Gericht anzufechten. Eine im Januar 2017 von der türkischen Regierung eingesetzte Kommission sei nicht ausreichend, um die Fälle zu bearbeiten. Die Kommission, deren Unabhängigkeit Amnesty zudem anzweifelte, habe ihre Arbeit noch immer nicht aufgenommen. Seit dem Putschversuch hätten nur 1300 Menschen ihre Positionen im Staatsdienst zurückerhalten.