Eine US-Forscherin arbeitet mit digitalen Geräten, die am Körper getragen werden und Emotionen erkennen. Durch Zufall macht sie eine bahnbrechende Entdeckung.

Boston/Heidelberg - Rosalind Picard ahnt nicht, wie sehr dieser Besuch ihr Leben verändern wird, als im Juni 1999 ein junger Mann in ihrer Tür am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA, steht. Und sie ahnt ebenso wenig, wie sehr der Zufall ihre Forschung in den Jahren danach prägen wird. Die junge Elektroingenieurin grübelt gerade, ob das neue Forschungsfeld der anziehbaren Computer, das sie mitaufgebaut hat, tatsächlich Wearable Computing heißen sollte, als einer ihrer Studenten anklopft und schüchtern fragt: „Können Sie meinem Bruder helfen? Er kann Emotionen nicht verstehen, er ist Autist.“ Picard hat sich bereits einige Jahre damit beschäftigt, wie Computer die Gefühle von Menschen erkennen können. Vielversprechend erscheint ihr damals der Weg über den Gesichtsausdruck: Anhand von Fotos lernen ihre Algorithmen, ob ein Mensch gerade glücklich oder traurig, wütend oder enttäuscht ist.

 

Computer erkennen Emotionen

Sie freut sich über den Besuch: Endlich gibt es einen guten Anwendungsfall für ihre Forschung! Autisten wie der Bruder ihres Studenten könnten davon profitieren, wenn Computer die Emotionen von Menschen entschlüsseln. Picard intensiviert ihre Forschung und stattet nicht nur den Bruder ihres Studenten, sondern zahlreiche weitere Probanden mit Minicomputern aus, die ihnen anhand des Gesichtsausdrucks verraten sollte, was ihr Gegenüber gerade empfindet.

18 Jahre später steht Picard, heute 55 Jahre alt, in Heidelberg vor Tausenden Teilnehmern einer Informatikkonferenz und berichtet von diesem Zusammentreffen, dem Beginn ihrer Erfolgsstory. Sie weiß, wie sie ihr Publikum in Bann zieht, sie macht kunstvolle Pausen, die Menschen hängen an ihren Lippen. „Wir hatten 70 Prozent Genauigkeit“, ruft sie in den Saal und schiebt lächelnd das Wort „damals“ hinterher. 70 Prozent der Emotionen hatte ihr System richtig gedeutet. „Heute“, fährt sie fort, „haben wir mehr als vier Millionen Probanden aus 75 Ländern vermessen. Und wir haben 90 Prozent Genauigkeit.“ Längst prangt das Logo eines Unternehmens auf ihrer Folie, es heißt Affectiva, Picard hat es mitgegründet. Es besitzt den größten Emotionsdatenspeicher der Welt. Und das ist erst der Anfang der Geschichte.

Die Emo-App ist leicht zu täuschen

In einer Konferenzpause ist die blonde Frau umringt von jungen Forscherinnen, alle haben Fragen an sie, jede träumt davon, eines Tages die Welt zu retten. Wem es gelingt, Rosalind Picard in der Ruhe eines Nebenraums zu treffen, der erfährt aber auch von ihren Zweifeln. „Das mit den Emotionen per Gesichtserkennung ist nicht so einfach“, sagt sie, „hier: probieren Sie.“ Und in der Tat: ein falsches Lächeln interpretiert die App als echten Frohsinn, und wer konzentriert dreinblickt, gilt schnell als unzufrieden. Die Rechenvorschriften fallen auf ähnliche Muster herein wie Menschen – ihnen fehlt der Kontext und die Intuition. Sie missinterpretieren mehr als die meisten Menschen. „Eine Stirnfalte kann Konzentration bedeuten ebenso wie Wut“, sagt sie, „oder einfach Alter.“ Zum Glück geht die Geschichte weiter.

Rosalind Picard macht schnell Karriere am MIT. Sie wird eine ordentliche Professorin und in der Informatikszene berühmt für ihre Forschungen rund um anziehbare Computer. Nur eines bleibt: Im Gegensatz zu ihren Kollegen verlernt sie das Zuhören nie. So wagt eines Tages einer ihrer Probanden, ein Autist, ihr die Wahrheit zu sagen: sie sei auf dem Holzweg. „Ich habe kein Problem damit, eure Emotionen zu verstehen“, sagte er, „aber ihr versteht meine Gefühle nicht.“

Autisten verraten ihre Gefühle über die Haut

Ihr wird klar, dass dabei auch keine Programme helfen, die Gesichtsausdrücke lesen. „Autisten wirken oft äußerlich sehr ruhig, sind aber innerlich aufgewühlt“, sagt Picard. Selbst für das engste Umfeld bleibt ihr Gesichtsausdruck rätselhaft. Picard experimentiert mit Armbändern, die über den Schweiß am Handgelenk Stress messen. Es ist die gleiche Technologie, die für Lügendetektoren verwendet wird. Wer gestresst oder aufgeregt ist, bei dem wächst die sogenannte elektrodermale Aktivität: Die Haut wird leicht feucht. Rosalind Picard startet vielversprechende Versuchsreihen, als kurz vor Weihnachten 2007 wieder ein Student bei ihr anklopft. „Ich würde gerne wissen, wann mein Bruder gestresst ist. Er ist Autist.“

Picard will wieder helfen und gibt ihm über die Weihnachtsferien zwei ihrer Messgeräte mit, eines als Ersatz. Doch als der junge Mann im Januar zurück ins Labor kommt, ist sie verblüfft. Er hatte anstatt eines Armbands beide zugleich genutzt, und während die Werte am einen Handgelenk gleichmäßig sind, erschrickt Picard angesichts einer enormen Kurve am anderen. „Das Kind hatte so einen Stress, wie ich ihn noch nie gesehen hatte.“ Wie kann es sein, dass der Stress die elektrodermale Aktivität nur an einem Handgelenk verändert? Picard steht vor einem Rätsel. Sie fragt ihren Studenten: Was war am Sonntag um 14 Uhr? Der hat sogar Tagebuch geführt, schaut nach und sagt: „Kurz danach hatte mein Bruder einen epileptischen Anfall.“

Das Gespräch mit einem Mediziner bringt den Durchbruch

Epilepsie? Picard hat keine Ahnung, was das ist, sie googelt, liest neurowissenschaftliche Artikel, vergräbt sich in Literatur und findet heraus, dass die elektrodermale Aktivität nicht nur mit Stress korreliert, sondern mit Aktivitäten im autonomen Nervensystem. Sie liest von parasympathischen und sympathischen Effekten, ihr dreht sich der Kopf. Aber über diesen Stresshöhepunkt an nur einem Handgelenk findet sie nichts. Sie fragt schließlich ihre Praktikantin, die Tochter eines führenden Epilepsieforschers am nahe gelegenen Bostoner Kinderkrankenhaus. Ob man vielleicht mal miteinander reden könne? Der Arzt stimmt einem Treffen sofort zu. „Ich war so furchtbar aufgeregt“, gesteht Picard. Werden sie überhaupt die gleiche Sprache sprechen?

Die gleiche Sprache? Für Tobias Loddenkemper ist das eine seltsame Frage. Natürlich nicht. „Wir beide sind hochspezialisiert, jeder auf seinem Gebiet“, sagt der Direktor Clinical Epilepsy Research des Boston Children’s Hospital. Jeder spricht seine Sprache, aber aus seiner Sicht war dieses Zusammentreffen ein großer Glücksfall. „Ich wünschte, wir hätten uns schon früher getroffen“, sagt er. Für ihn liefert diese Informatikerin, die Anfang 2009 aufgeregt in seiner Tür am Hospital steht, ein wichtiges Puzzleteil zu einer Forschung, die schon in den 1970er Jahren begonnen hatte und die ins Stocken geraten war. „Wir kannten dieses Signal, wir wussten, dass diese Veränderung im autonomen Nervensystem ein Sudep-Marker ist.“ Sudep steht für „sudden death in epilepsy“, den plötzlichen Tod nach einem epileptischen Anfall. Dieser Tod war für die Forscher bis dahin ein Rätsel. Wann genau trat er auf? Und wieso? Jene Veränderungen im autonomen Nervensystem ließen sich nur mit aufwendigen Aufbauten in der Klinik messen. „Wir hatten dieses Signal vernachlässigt.“

Kann man den Tod vorhersagen?

Die Situation war vertrackt: Es schien, als gebe es Marker, die den Tod vorhersagen – aber man konnte sie nicht messen. „Es war meine größte Hoffnung, dass Roz’ Sensor Anfälle detektieren und uns sagen kann: Wie hoch ist das Risiko, dass jemand stirbt?“, sagt Loddenkemper. Mit dieser Information könnte man Leben retten, hofft er. Aus vielen Daten der Vergangenheit weiß er, dass diese plötzlichen ungeklärten Todesfälle meist dann geschehen, wenn die Betroffenen alleine sind. Irgendetwas an der Anwesenheit anderer Menschen scheint den Tod zu verhindern. Was genau, das weiß man noch nicht, lediglich die Korrelation ist bekannt: Wer einen dieser schweren Anfälle in Gesellschaft erleidet, stirbt seltener. Picard gründet eine weitere Firma, Empatica, und bringt ein Messgerät auf den Markt, das solche Anfälle dank verschiedener Sensoren und künstlicher Intelligenz immer besser vorhersagt. Sie ist überzeugt: „Das Gerät rettet Leben.“

Manche werfen Picard vor, sich am Leid anderer Menschen zu bereichern. Sie hat zwei Unternehmen gegründet. Das erste, Affectiva, verkauft die Emotionserkennung heute gewinnbringend an Werbeunternehmen. Zielgerichtete Werbung anstatt Hilfe für Autisten? Die leichte Falte auf Picards Stirn wird tiefer. Ein Zeichen für Ärger, würde ihre App vielleicht sagen. „Eine Firma zu gründen, das erschien mir immer so, als würde ich auf die dunkle Seite wechseln“, sagt sie. „Aber wir brauchten die besten Leute, und die haben wir anders nicht bekommen.“ Das Geld der Marketingunternehmen helfe, um weiter zu forschen im Sinne der Autisten. Bis heute hadert sie damit. „Ich hätte ein einfacheres Leben gehabt ohne diese Unternehmen.“ Dann glättet sich ihre Stirn wieder, das unverkennbare Strahlen kehrt in ihr Gesicht zurück: „Aber heute weiß ich, dass Menschen leben, weil Empatica diese Geräte baut.“

Der Arzt hofft sehnlich auf den Durchbruch

Rettet es Leben? Loddenkemper wünscht sich nichts sehnlicher. „Ich will nicht mehr diese Anrufe von Familien bekommen, die sagen: Heute Nacht ist mein Kind gestorben. Ich wusste nicht, dass es einen Anfall hat.“ Er stockt. „Das ist das Schlimmste, was einem Arzt passieren kann.“ Nur zu gerne würde er sagen: Das Gerät rettet Leben. Er vermutet auch, dass es so ist. Aber er sagt: „Wir können es nicht mit Sicherheit sagen.“ Er weiß von vielen Todesfällen, bei denen der Betroffene allein war. Und er kennt die Erzählungen von Picard, in denen das Gerät Alarm schlug und ein Patient gerettet werden konnte. Aber wäre er alleine tatsächlich gestorben? Und wären die anderen nicht gestorben, wenn jemand bei ihnen gewesen wäre? „Kürzlich ist ein Patient mit Armband am Handgelenk gestorben“, sagt er und seufzt. Es hatte Alarm geschlagen, aber die Eltern des Kindes konnten nicht schnell genug kommen. In diesem Fall hat das Gerät den Tod also nachweislich richtig vorhergesagt. Loddenkemper hätte auf diesen Beweis gerne verzichtet.

Vor einiger Zeit hätten Kollegen im Fachmagazin „The Lancet“ die Effektivität von Fallschirmen gegen die Schwerkraft beweisen wollen. „Aber sie fanden keine Kontrollgruppe, die auf den Fallschirm verzichten wollten.“ Das sollte natürlich ein Witz sein, eine Anekdote, aber Loddenkemper kann nicht darüber lachen. Er will gar nicht erst versuchen, eine Kontrollgruppe zu finden, die auf das Armband verzichtet. „Das ist ethisch nicht in Ordnung.“ Auch Rosalind Picard will diesen Gedanken gar nicht zu Ende denken. Das bringt sie nicht übers Herz.