Leipziger Buchpreis Fünf starke Bücher trotzen dem Virus
Sich radikalisierende Buchhändler, Kinder, die zu Hunden werden, hypnotische Nachtgesänge und gestochen scharfe Zeitbilder: Die Auswahl für den Leipziger Buchpreis hat manches zu bieten. Am Donnerstag wird der Sieger in Deutschlandradio Kultur verkündet. Wir stellen die Kandidaten vor.
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Foto picture alliance/dpa/Sören Strache, Mathias Bothor, Hendrik Schmidt, Zuzanna Kaluzna, Stefan Klüter
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Ingo Schulze, Maren Kames, Lutz Seiler, Leif Randt, Verena Güntner (von links oben im Uhrzeigersinn)
Foto S. Fischer Verlag
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Wie wird ein feinsinniger Bücherwurm zum neurechten Barbaren? In einem erzählerischen Dreischritt durch die jüngere deutsche Geschichte legt Ingo Schulze diese Strecke in dem raffinierten Verwirrspiel seines neuen Romans „Die rechtschaffenen Mörder“ zurück: Im stilisierten Legendenton zeichnet er die Ikone eines Heiligen im himmlischen Königreich eines Dresdner Antiquariats. Doch der kultivierte Fluchtwinkel inmitten des real existierenden Sozialismus ist ein Vexierbild. Sobald sich das Blatt wendet, 1989, wird anderes sichtbar. Die Perspektive geht über auf einen Autor, den nur ein T im Namen von jenem Schulze trennt, der hier schreibt. Während er im Westen die Früchte erntet, deren Saat im Dresdner Bücherparadies gelegt wurde, haben den Antiquar die biblischen Plagen der neuen Zeiten ereilt. Aus dem Homme de Lettre wird ein Kassierer im Supermarkt, schließlich der Ziehvater eines Neonazis. Und dann kommt noch die Lektorin ins Spiel: Plötzlich erscheint der tiefe Fall des Antiquars in anderem Licht ebenso wie die Frage, zu welchen Verbrechen Büchermenschen fähig sind. Immer wieder hat der 1962 in Dresden geborene Ingo Schulze das Diesseits und Jenseits der Wende, Hoffnungen und Enttäuschungen in seinen Werken zusammengebracht. In literarischer Hinsicht zählen seine „33 Augenblicke des Glücks“ und „Simple Storys“ zu den glücklichsten Resultaten der Wiedervereinigung – weil sie daran erinnern, was alles offen blieb. Auch in seinem neuen Roman müssen sich die Leser selbst die Antwort geben auf die drängende politische Frage unserer Zeit.
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In Verena Güntners „Power“ begegnet man ebenfalls einer deklassierten Dorfgesellschaft, in der ein Halbwüchsiger seine Schulkameraden fragt, ob sie mit ihm zusammen Nazi sein wollen. „Was ist eigentlich ein Nazi?“ – „Keine Ahnung. Einer der Angst hat, dass man ihm was wegnimmt.“ Doch Verena Güntner wagt sich von der trostlosen Oberfläche beschädigter Verhältnisse weit hinein in den Untergrund der Wildnis. In einer Mischung aus Rattenfängermärchen und Werwolfgeschichte beschreibt sie die Dynamik sozialer Rudelbildung. Die Kinder des Dorfs rotten sich im Wald zusammen gegen die Welt der Erwachsenen. Ihre von einem Alphaweibchen angeführte Tierwerdung im Dienst einer abstrakt bleibenden Mission steht im Wechselverhältnis zu der Bestialität männlicher Gewalt, die die Lebensverhältnisse im Dorf prägt. Verena Güntners faszinierende Abenteuergeschichte aus dem Herzen der Zivilisation bezieht ihre eindringliche Kraft aus den dunklen Regionen, wo sich Hyperrealismus und Symbolismus Gute Nacht sagen. Dumont Verlag
Foto Secession Verlag
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Gestaltenwandel im Mondenschein und die Überwältigung durch dunkel leuchtendes Bedeutungsdickicht sind nicht nur Motive von Maren Kames’ Langgedicht „Luna Luna“, sondern beschreiben dessen grafisches Erscheinungsbild. Weiße Zeichen auf schwarzem Grund. Wer sich von dem Sog betörender Unverständlichkeit mitreißen lässt, betritt ein Gebiet, in dem Worte wie Irrlichter durch das Ungewisse flackern, Hunde den Mond anbellen und ein imaginäres Echo aus den Tiefen popkultureller Verzauberung widerklingt. Die somnambule Weisheit und die buchstäbliche Weißheit der Zeichen verdichtet sich immer wieder zu luftigen Motiven, denen man gebannt folgt, ohne sie je zu erhaschen. Und plötzlich quert „ein kleines koronapompom, wie ein sehr langsame drohne“ den Weg. „Koronapompom“ – vielleicht ist es das, was uns allen gegenwärtig das Haupt benebelt. In einem Buch, das bereits vor der großen Viruskrise erschienen ist, klingt das jedenfalls prophetisch. Der Leipziger Buchpreis hat vor einigen Jahren mit dem Lyriker Jan Wagner das Kerngebiet der Belletristik verlassen. In Maren Kames verbindet sich hermetische Verheißung mit dem Duktus einer ungewöhnlichen Erzählung.
Foto Kiepenheuer & Witsch
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Kann sein, dass die Welt nach einer Dosis Ketamin angenehm verrätselt erscheint, wie ein Text von Maren Kames. Dafür hat man bei der Lektüre von Leif Randts „Allegro Pastell“ den Eindruck, hier habe jemand den Algorithmus seiner Generation entschlüsselt. Der Web-Designer Jerome Daimler und die Autorin Tanja Arnheim sind funkelnde Prototypen aus dem Menschenpark jener Gesellschaft der Singularitäten, die der Soziologe Andreas Reckwitz beschrieben hat: selbstbewusste, hochreflektierte Kuratoren ihrer eigenen Biografie, die mit den Codes der Social-Media-basierten Selbst- und Weltwahrnehmung so frei umgehen können wie mit den unverwechselbaren Gütern und Events, Sexpartys, Communitys und Städten. Zwischen Frankfurt und Berlin führen sie eine wohltemperierte Fernbeziehung, deren wahlweise durch kontrollierte Drogendosen – Ketamin – optimierter Qualitätssex ihnen bisweilen so befriedigend erscheint, dass sie es für möglich halten, dadurch an der energetischen Verbesserung des gesamten Planeten mitzuwirken. Das Maß der Dinge sind sie selbst. Ihnen fehlt die Motivation, sich ernsthaft mit jemandem auseinanderzusetzen, der sich von ihnen unterscheidet. Was die Liebenden dieser pragmatischen Lovestory auseinandertreibt, ist folglich nichts Ernstes, eher ein Kurzschluss. Blackout. Leif Randt ist der Experte für reflexiv gepufferte Glücksvisionen. Auch sie sind Vexierbilder. Man kann sich wunderbar darin spiegeln – und weiß nicht genau, ob man dabei in die Hölle oder den Himmel der Gegenwart blickt.
Foto Suhrkamp Verlag
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Die Utopien des „klugen Rudels“, das den jungen Protagonisten von Lutz Seilers „Stern 111“ aufnimmt, sind anderer Art – wie das Berlin, das ihre Ideen in der auf die Wende folgenden Traumzeit ausschwitzt, ein anderes ist als jene Hochglanzmetropole, in der Randts Figuren ihr Selbstgefühl feiern. Für seinen Roman „Kruso“, der unmittelbar an die Wende heranführt, hat Seiler 2015 den Deutschen Buchpreis erhalten. „Stern 111“ beleuchtet die darauffolgende Periode. Im Untergrund der Hausbesetzerszene, die eine alternative Lebensform jenseits der beiden Wege von West und Ost ausprägt, wuchert ein anarchisches Leben. Die einstürzenden Altbauten einer längst gentrifizierten Erinnerungsbrache bilden den Boden, auf dem ein junger Mann zum Dichter reift. Und sie spendet den Stoff, aus dem der erwachsene Autor seinen Roman baut.