Josephine Stuhr wäre selbst fast ein Christkind geworden, damals vor 100 Jahen. Sie erinnert sich daran zurück, wie man in ihrer Kindheit Weihnachten feierte – und an vieles mehr.

Ludwigsburg: Susanne Mathes (mat)

Gerlingen - Ist das wirklich schon fast ein Jahrhundert her, dass sie zu Weihnachten warm eingepackt mit ihren fünf Geschwistern und ihrer Mutter früh morgens, stockdunkel war es da noch, in die katholische Kirche marschierte? Im Gedächtnis von Josephine Stuhr ist es noch sehr gegenwärtig. „Das war immer am ersten Weihnachtsfeiertag, am 24. feiert man bei uns in den Niederlanden nicht“, erinnert sie sich. Der feierliche Gottesdienst begann um 6 Uhr. „Natürlich waren wir besonders schön angezogen, denn die Leute guckten ja.“ Der Vater blieb, wenn die Schar zur Frühmesse auszog, zuhause. Er war nicht katholisch und hatte es ohnehin nicht so mit der Kirche.

 

Seit dem 19. Dezember ist Josephine Stuhr 100 Jahre alt. Ein Kirchgang kommt für sie nicht mehr in Betracht, sie sieht fast nichts, kann kaum noch gehen. Vielleicht gesellt sie sich am Montag zur Weihnachtsfeier ihres Wohnbereichs im Pflegezentrum Breitwiesenhaus.

Ein spannendes Pflaster

Josephine Stuhrs Heimat Middelburg, die Hauptstadt der Provinz Zeeland, war ein faszinierendes Pflaster zum Großwerden. Durchzogen von Kanälen, pittoresk mit seinen steinalten Gebäuden als Zeugnisse einer stolzen Historie, die eng mit dem Gewürzhandel mit Indien verknüpft ist: So hat sie die Stadt ihrer Kindheit in Erinnerung. Ihr Vater war Möbelschreiner, Experte für Mahagoniholz. Das exquisite Mobiliar leisteten sich unter anderem die „gut betuchten Bauern“, erzählt Stuhr. Das Mahagoniholz, ein wahrer Staubfänger, habe unentwegt sorgfältig mit der Hand poliert werden müssen.

Geträumt hatte die junge Josephine von einer Schauspielkarriere, sie wurde dann aber Schneiderin. Die Kriegszeiten dirigierten manchen Lebensentwurf in unvorhergesehene Richtung – auch den der jungen Niederländerin. In einem Café in Amsterdam lernte sie ihren späteren Mann, einen Marinesoldaten kennen, mit dem sie nach Deutschland zog. Sein Weg führte das Paar unter anderem nach Besigheim und nach Stuttgart-Giebel. Die Stuhrs führten dort das Postamt, Josephine kannte Hinz und Kunz, schließlich wurden über die Postämter Renten ausbezahlt, und Gastarbeiter zahlten bei ihr das Geld für die Familien in der fernen Heimat ein.

Mit Stärke gegen Schicksalsschläge

Ihren Mann verlor Josephine Stuhr früh: Er starb mit 56 Jahren. Ein weiterer, kaum zu überwindender Schlag war, dass ihre Tochter mit 42 Jahren den Kampf gegen den Krebs verlor. Ein Trost ist ihr, dass ihr Sohn Peter verlässlich für sie da ist. So wie sie es selbst lange für andere Personen war – als Unterstützerin für erblindete Menschen. „Bei mir selbst fing es mit den Augen mit 72 Jahren an“, erzählt die 100-Jährige. Immer schlechter ging es mit dem Sehen, irgendwann blieben ihr nur noch rudimentärste Reste des Sehvermögens. „Ich bin eine, die nicht so schnell aufgibt“, sagt Josephine Stuhr. Sie lernte die Blindenschrift, bestritt ihren Alltag weiter eigenständig und engagierte sich in Blinden-Verbänden, um Schicksalsgenossen zu helfen. Erst als es mit den Treppen in ihrer Wohnung über dem Giebeler Postamt, in der sie 50 Jahre lang gelebt hatte, gar nicht mehr ging, musste sie ins Heim umziehen.

Ein Platz im Himmel

Denkt sie an die Weihnachten ihrer Jugend, sieht sie sich, die Eltern und die Geschwister zusammensitzen, Domino und Karten spielen und Spekulatius knabbern. „Wünschen konnte man sich damals vieles, ob man es bekam, war eine andere Sache. Wir jungen Leute haben dem Papa immer eine gute Zigarre gekauft und unserer Mutter wunderschöne Blumen.“ Später, in Deutschland, lernte sie Christstollen backen – die Backfee am Plätzchenblech war sie aber nie, wie sie lächelnd erzählt.

Wenn sie plaudert, mischen sich in ihr gewähltes Hochdeutsch schwäbische und niederländische Einsprengsel. Eine charmante Mischung, die allerdings die schweren Gedanken nicht relativiert, die Josephine Stuhr ebenfalls beschäftigen. „Wenn ich aufstehe, muss ich aufpassen, dass ich nicht auf die Snot falle. Das ist nicht schön“, sagt die Frau, die ein ganzes Jahrhundert durchlebt hat. „Es wird Zeit, dass da oben im Himmel ein Platz für mich frei wird.“