In der Region Stuttgart können sich junge Leute die Lehrstellen aussuchen – im Prinzip. Der Konkurrenzkampf der Betriebe um gute Bewerber spitzt sich zu. Dennoch kassieren Schulabsolventen jede Menge Absagen. Ein Personalentwickler von Saturn erklärt, warum.

Stuttgart - In der Region Stuttgart gibt es jede Menge freie Lehrstellen: die Industrie- und Handelskammer (IHK) meldet 1000, die Handwerkskammer 800 nicht besetzte Ausbildungsplätze. „Unsere Betriebe suchen händeringend nach Fachkräften“, sagt Gerd Kistenfeger, Sprecher der Handwerkskammer. Und Martin Frädrich, Geschäftsführer Beruf und Qualifikation der IHK Region Stuttgart, stellt fest: „Der Wettbewerb um Fachkräfte und junge Menschen, die sich in Zukunft zu einer solchen ausbilden lassen wollen, wird sich weiter verschärfen.“ Besondere Probleme bei der Besetzung der Lehrstellen haben nach Auskunft von Carmen Gutierrez-Gnam, Pressesprecherin der Arbeitsagentur Stuttgart, der Einzelhandel und der Verkauf, wo derzeit in Stuttgart 146 Ausbildungsstellen offen seien.

 

Der Stuttgarter Saturn in der Königstraße scheint allerdings eine Ausnahme zu sein. „Wir haben immer zwischen 80 und 100 Bewerber“, berichtet Yasmar Korkmaz, der dort Personalentwickler und Ausbildungsverantwortlicher ist. Alle elf Azubi-Stellen seien besetzt. „Wir schauen nicht nur auf die Schulbildung – uns geht’s drum, jedem eine faire Chance zu geben.“ Deshalb biete man den in Frage kommenden Bewerbern zwei Schnuppertage an. Ihnen sage man: „Schaut euch die zwei Tage intensiv um. Stellt euch vor, ihr müsst das jeden Tag machen.“ Allerdings komme es bei vielen Bewerbern schon gar nicht so weit. „Wir haben den Eindruck, dass sich leider einige Azubis bei der Bewerbung wenig Mühe geben – wir kriegen Bewerbungen, wo kein richtiges Anschreiben dabei ist, nur ein Lebenslauf und die Ansage: ‚Ich habe Interesse.’“, berichtet Korkmaz.

Viele junge Leute geben sich zu wenig Mühe mit ihren Bewerbungen

Der Einzelhandelsberuf sei zwar begehrt, aber es fehle bei vielen Bewerbern an der richtigen Strategie, vielleicht auch an Konzentration. Wie sonst könne es sein, dass man Bewerbungen bekomme, die an ein anderes Unternehmen gerichtet sind.

Wichtig sei bei Bewerbern das Interesse, sagt Korkmaz. „Das Können kann man sich aneignen – es steht und fällt aber mit dem Wollen.“ Zunehmend bilde man Realschulabsolventen aus. Aber Saturn biete auch eine Online-Plattform mit Lernprogrammen und Tests, die die Azubis während der Arbeitszeit machen können. Zu den Schulungen durch Industriepartner seien die Lehrlinge genauso eingeladen wie Mitarbeiter. Insgesamt spiele Wertschätzung eine große Rolle. Aus gutem Grund, wie Korkmaz erklärt: „Wir stellen nicht für den Arbeitsmarkt ein, wir stellen für uns ein – wir wollen die Azubis auch übernehmen.“ Nur zehn Prozent von ihnen nutze die Möglichkeit, nach zwei Ausbildungsjahren als Verkäufer einzusteigen. Die meisten hängten ein drittes Jahr an zum Einzelhandelskaufmann an.

Der Obermeister der Bauinnung sieht das Handwerk im Hintertreffen

Hermann Lorenz rennen die Bewerber nicht die Bude ein. Der Obermeister der Bauinnung Ludwigsburg-Stuttgart hat eine Bauunternehmung in Großbottwar – und bildet einen Azubi aus. „Momentan ist der Geräteführer attraktiver als der Maurer in der Nachfrage“, sagt er. Das Problem sei: „Die Industrie bedient sich zuerst, erst dann kommt das Handwerk dran.“ Dies gelte insbesondere für den städtischen Raum. Hinzu komme, dass man beim Bauberuf Wind und Wetter ausgesetzt sei. Nicht von ungefähr liege die Abbrecherquote bei 25 bis 30 Prozent – seine Azubis hätten allerdings durchgehalten, wenn auch zum Teil „mit Müh und Not“. Größere Firmen könnten attraktivere Ausbildungsplätze bieten. „Motivation“, meint Hermann, „ist schon ein Riesenthema“. Viele junge Leute wollten lieber mehr Freizeit haben, weniger arbeiten und verzichteten dafür auf Luxus.

„Die Betriebe brauchen ausbildungsfähige Bewerber“, sagt Kistenfeger. Doch oft fehle es ihnen an sozialen Kompetenzen, Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Durchhaltevermögen und der Fähigkeit, Rückschläge auszuhalten. Kistenfeger empfiehlt, möglichst mehrere Praktika zu machen – „damit die Jugendlichen sehen, wo sie gut hinpassen und was sie nicht wollen“. Längst setze man im Handwerk auch auf Abiturienten, Studienabbrecher – und auch in den Bereichen Stuckateur, Maler, Kfz auf Mädchen. Auch Flüchtlinge habe man im Blick. Jedoch, so Kistenfeger: „Man braucht einen langen Atem und viel Unterstützung und Disziplin – aber es lohnt sich für alle Seiten.“ Allerdings: „Sprachkompetenz ist das A und O“ – für die Bleibeperspektive, aber auch für den Umgang mit Kollegen und Kunden. Kistenfeger rät auch jungen Menschen mit Handicap, „sich eine Bewerbung zu getrauen – wir haben einen Inklusionsberater im Haus“. Es gebe gute Erfahrungen.

Viele Betriebe in der Region Stuttgart würden gern Flüchtlinge beschäftigen

Auch Frädrich erklärt: „Das Interesse der Betriebe in der Region Stuttgart, Flüchtlinge zu beschäftigen, ist groß.“ Für ausländische Fachkräfte gebe es bereits spezielle Jobmessen. Beim Ausbildungsmarkt werde der Flüchtlingsstatus aus Datenschutzgründen allerdings nicht erfasst. Unter den neu eingetragenen Azubis sind auch 21 Syrer, 15 Afghanen und zehn Gambier. Schon heute, so Frädrich, fehlten im Großraum Stuttgart pro Jahr im Schnitt 23 000 Qualifizierte. Im Jahr 2030 werde diese Fehlzahl noch massiv steigen: auf 108 000.

Das größte Ausbildungshemmnis seien laut IHK-Umfragen unklare Berufsvorstellungen. Dem will die IHK am 3. Juli von 9 bis 15 Uhr mit dem „Tag der Ausbildungschance“ (in Stuttgart in der Jägerstraße 30) begegnen. Mehr als die Hälfte der befragten Betriebe hätten bei ihren Azubis fehlende Leistungsbereitschaft und Motivation sowie Defizite beim schriftlichen und mündlichen Ausdrucksvermögen und bei elementaren Rechenfertigkeiten beklagt.