Der Turm in Tübingen wird am Sonntag mit einer vollständig erneuerten Ausstellung wiedereröffnet. Der Eintritt ist frei.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Tübingen - Selten verschmelzen Wirklichkeit und Dichtung so sehr wie bei Friedrich Hölderlin und dem Tübinger Turm. Mit dessen schlanker Form, den trauernden Weiden am Flussufer, den schlummernden Kähnen und dem gemächlich dahinziehenden, derzeit ganz erdfarbenen Neckar könnte dieser Ort geradewegs einem Gedicht Hölderlins entsprungen sein – „Hälfte des Lebens“ etwa, wo „voll mit wilden Rosen das Land in den See“ hängt, oder dem Gedicht „Der Neckar“, in dem der Dichter selbst im fernen Griechenland oder gar im Tod seinen Fluss nicht vergessen will „mit seinen lieblichen Wiesen und Uferweiden“. Auch deshalb ist der Hölderlinturm, der nun am Sonntag nach zweijähriger Schließung mit völlig neuer Ausstellung und runderneuert wiedereröffnet wird, längst Kristallisationspunkt und Anker für die zumindest nicht akademische Erinnerung an Friedrich Hölderlin geworden.

 

Das Verblüffende ist aber nun, dass der Turm trotz dieser zentralen Bedeutung nicht einmal ansatzweise authentisch ist. 1875, das war 32 Jahre nach Hölderlins Tod, brannte er vollständig ab und wurde in anderer Form wiederaufgebaut. Und außer einem kleinen Tisch hat sich kein einziges Möbelstück der damaligen Zeit erhalten. Doch statt diese fehlende Authentizität schamvoll zu verschweigen, haben sich der Kurator Thomas Schmidt vom Deutschen Literaturarchiv Marbach, die Stadt Tübingen und die Architekten des Stuttgarter Büros Coast dazu entschieden, gerade mit diesem Thema zu spielen und das letztlich Einzige, was im Turm wirklich wahrhaftig ist, in den Mittelpunkt zu stellen: die Gedichte, die Sprache, den Rhythmus.

Die Ausstellung will die Dichtung erfahrbar machen

Das macht die neue Ausstellung unbedingt sehenswert und verleiht ihr eine große Reife, weil sie sich der üblichen Heldenverehrung weitgehend verweigert und sich auch der Erwartung des Besuchers entzieht, dass er einen Andachtsort für einen großen toten Dichter betrete. Stattdessen will die Ausstellung lebendig sein und Dichtung lebendig machen. Wie das geht? Zum Beispiel kann man sich in mehreren Räumen Gedichte Hölderlins vorlesen lassen; wenn man dabei die Hand auf eine Holzplatte legt, vibriert das Holz im Versmaß der Zeilen. „So erfährt man körperlich, was mit der Sprache passiert, wenn sie in das Feld der Schönheit gerät“, sagt Kurator Thomas Schmidt.

Weiter gibt es ein Sprachlabor, wo man etwa wie in einem Computerspiel Hölderlins Avatar im richtigen Takt über Hindernisse springen lassen muss. Oder man kann im Garten am Neckar ein Gedicht in drei verschiedenen Geschwindigkeiten ergehen und erspüren, welches der richtige Rhythmus wäre. Sogar die Lampen im Flur sind im Versmaß einer Gedichtzeile aufgehängt worden.

Und überhaupt der Garten: Er konnte um ein Grundstück erweitert werden und hat nun eine solche Größe, dass die Leiterin des Hölderlinturmes, Sandra Potsch, dort auch Konzerte und Lesungen veranstalten will. Und jedem steht es frei, dort seine Mittagspause zu verbringen und einfach nur den poetischen Ort am Fluss zu genießen: Indem Turm und Garten keinen Eintritt kosten, will man Friedrich Hölderlin seines Nimbus’ als göttlicher Titan entledigen und ihn in die Mitte der Tübinger Bürgerschaft zurückholen.

Gleich drei Gedenkstätten sind überarbeitet oder ganz neu

Daneben bietet die neue Ausstellung aber natürlich auch ganz klassische Elemente. Sie stellt die Familie Zimmer vor, die sich so lange rührend um den kranken Hölderlin gekümmert hat. Und sie erzählt mit Schriften, Zeichnungen und Zitaten von Hölderlins Zeit in Tübingen, die ja in zwei Teile zerfällt: in die Jugend im Stift voller revolutionärer Visionen – und in die 36 Jahre im Turm voller geistiger Zerrüttung. In der Ausstellung liegen die beiden Phasen übergangslos Zimmer an Zimmer; nur ein Zitat im Türrahmen deutet den großen Sprung an: „Du suchst auf diesem Erdenrunde, Edler Geist! umsonst dein Element.“

Und, nun ja, ein wenig getrickste und sentimentale Annäherung an Hölderlin gibt es zuletzt doch: Das legendäre Turmzimmer, in dem der Dichter dem Mythos nach am Fenster stand und über den Fluss bis weit hinaus zur Alb schaute, ist in angedeutet historischem Stil wiederhergerichtet, mit dem besagten echten Tischchen in der Mitte – dabei hat Hölderlin diesen Raum so nie gesehen und nie betreten. Aber ein wenig darf man dem Wunsch der Besucher, sich dem Dichter nahe zu fühlen, ja durchaus nachgeben.

Rund 2,1 Millionen Euro hat die Kompletterneuerung des Turmes gekostet, weitere 400 000 Euro der Garten; diese letzte Summe übernahm die Wüstenrot-Stiftung. Damit werde Tübingen seiner Rolle als „Stadt des Wortes“, in der Hölderlin so klar herausrage, weiter gerecht, sagte Dagmar Waizenegger vom Kulturamt. In wenigen Wochen kommt für mehr als fünf Millionen Euro eine neue Gedenkstätte in Hölderlins Geburtsort Lauffen am Neckar hinzu, und auch Nürtingen eröffnet, wenn auch verspätet erst im nächsten Jahr, eine noch nicht näher konzipierte Ausstellung im mütterlichen Haus; dort investiert man gar sieben Millionen Euro. Insofern lässt der Sog des Jubiläums und die Kraft des 250. Geburtstags Hölderlins in diesem Jahr bedeutende – und vor allem bleibende – Projekte wahr werden. Authentizität hin oder her.