Die 61. Berlinale hat erstmals 3-D-Filme in ihren noblen Wettbewerb aufgenommen. Noch halten viele diese Technik für eine kurzlebige Mode.

Stuttgart - Laut, bunt, schrill, vulgär: Kino ist der ewige Jahrmarkt unter den Künsten, die zum globalen Milliardengeschäft gewordene Effekthascherei. So sehen das zumindest die Verehrer der Hochkultur. Die großen Filmfestivals dieser Welt aber, jene von Cannes, Venedig und Berlin, rechnen es sich zur Pflicht und Ehre an, solchen Dünkel mit dem zu konfrontieren, was rund um den Globus an Filmkunst alljährlich entsteht.

Aber auch manche Cineasten tadeln allzu Schrilles im Popcornkino, derzeit vor allem die neue Dreidimensionalität der Bilder. Dass Menschen nun mit speziellen Brillen im Kino sitzen, scheint ihnen keine neue Form des Sehens, sondern eine der Blindheit. Wer so ein Hilfsmittel brauche, der habe die Schönheit der zweidimensionalen Bilder nie empfunden, maulen die Kinokonservativen.

Diese filmkunstfeine Abqualifizierung einer neuen Technik ist neuerdings aber ein ganzes Stück weiter insAbseits gerutscht. Die 61. Internationalen Filmfestspiele Berlin, die morgen eröffnet werden, haben dem 3-D-Film einen eigenen Schwerpunkttag gewidmet und 3-D-Filme sogar in den Wettbewerb aufgenommen.

Die Kommerzkinos haben kein gutes Jahr hinter sich


Dieter Kosslick, der Chef der Berlinale, hätte es wohl gerne, dass man seine Programmerweiterung als Adelsschlag für den 3-D-Film tituliert. Eines der ausgewählten Werke stammt von Wim Wenders, eines von Werner Herzog, beides sind Dokumentationen, eines liefert der französische Animationskünstler Michel Ocelot. 3-D ist kein exklusives Stilmittel des Achterbahnkinos mehr.

Die Berlinale aber adelt nicht, sie kommt gerade noch rechtzeitig zur Einsicht, dass die 3-D-Technik kein wertloser Gimmick ist, der die Kinobesucher nach ein paar Abenden mit schwindender Überraschungs- und Verzückungskraft bald wieder kaltlassen wird. Das Kino erlebt vielleicht gerade eine Transformation: nach Ton, Farbe, Breitwand könnte die Räumlichkeit der Bilder Standard werden.

Das macht niemandem so viel Sorgen wie den Vertretern des Kommerzkinos selbst. Die haben eigentlich kein gutes Kinojahr 2010 hinter sich. Dass sie trotz eines Rückgangs der Besucherzahlen - bis zu 20 Prozent in wichtigen Märkten wie dem deutschen - nur geringe Umsatzeinbußen oder gar leichte Steigerungen vermelden können, liegt am Kartenaufpreis für 3-D-Vorführungen. Doch mehr Eintritt können die Kinos nur verlangen, solange 3-D-Filme etwas Besonderes sind. Je mehr stereoskopische Filme auf die Leinwand drängen, desto geringer wird die Bereitschaft des Publikums, einen Preisaufschlag zu akzeptieren.

Cameron glaubt an bald kurierte Kinderkrankheiten


Noch gibt es auch Mahner, die das 3-D-Kino als Irrweg sehen. Der amerikanische Cutter und Sounddesigner Walter Murch etwa, der für seine Arbeit an "Apocalypse now" zwei seiner vier Oscars gewonnen hat, sieht eine grundsätzliche Überforderung von Auge und Gehirn. Die müssten sich im 3-D-Kino auf zwei Sehebenen gleichzeitig konzentrieren: auf die ganz normale Leinwand und auf jene Ebene, in der das 3-D-Bild einen Gegenstand vermeintlich erscheinen lässt. "Die Menschen müssen im Kino etwas leisten" sagt Murch, "worauf 600 Millionen Jahre Evolution sie gar nicht vorbereitet haben." Die Folge seien Kopfschmerzen oder jedenfalls ungute Anspannung, die dem Publikum bald zu viel werden könnte.

Der Regisseur und Produzent James Cameron, der dem 3-D-Kino mit "Avatar" sein bislang prächtigstes Schaustück und dem Kino überhaupt den größten Umsatzbringer geliefert hat, ist da anderer Meinung. Er glaubt, anstrengend am neuen System seien vor allem ein paar Kinderkrankheiten, die man nun zügig kurieren müsse. Schon der geplante "Avatar 2" werde Besserung bringen. "Im 3-D-Kino", sagt Cameron, "fällt der Flackereffekt der herkömmlichen Projektionstechnik auf, die mit nur 24 Bildern pro Sekunde arbeitet. Wir werden ,Avatar 2' mit 48 oder vielleicht sogar 60 Bildern pro Sekunde fotografieren und auch abspielen lassen. Dann gibt es kein Flackern mehr." Aber auch von den Kinos verlangt Cameron weitere Verbesserungen. Noch sind 3-D-Bilder merklich dunkler als 2-D-Bilder, eine Differenz, die der Schöpfer von Kassenknüllern wie "Titanic" bald beseitigt wissen will. Schon wieder also müssten neue Projektoren und Brillen her.

Falls die Kinogänger sich an 3-D-Bilder gewöhnen und die Produzenten stereoskopische Filme Woche um Woche liefern werden, steht aber eine ganz andere Frage als die nach möglichem Kopfschmerz im Raum: Wie lange wird es brauchen, bis der junge Filmkonsument 2-D-Bilder als trist, vorgestrig und buchstäblich unansehnlich empfinden wird?

Stummfilme sind heute ein Vergnügen weniger Liebhaber, und auch Schwarz-Weiß-Filme erscheinen dem modernen Medienkonsumenten zunehmend befremdlich. Steht also ein ganz großer Kulturbruch bevor? Wird die ganze bisherige, zweidimensionale Filmgeschichte bald keine neuen Fans mehr finden? Spezialfirmen bieten den Rechteinhabern von Filmklassikern bereits an, betagte Werke - "Vom Winde verweht" etwa, "Casablanca", "Lawrence von Arabien" - auf 3-D-Standard zu bringen. Filmkunstfreunde stellen sich das Ergebnis als die schlimmste Form von Jahrmarkt vor: als Monstrositätenschau.