Vom Lockdown bedroht, von Hedonisten vermisst: Mit Aspekten der Clubkultur setzt sich die zwei Tage und Nächte dauernde Live-Performance „Sperrstunde“ im Stuttgarter Stadtpalais auseinander, inszeniert vom Theaterteam Tacheles und Tarantismus.

Stuttgart - Auch das Stuttgarter Stadtpalais hat eine zweite Chance verdient. Die erste Chance wurde vermasselt vom Corona-Lockdown im März, als Philipp Wolpert und Tobias Frühauf gerade im Begriff waren, mit ihrem Technotheater „Orange Moon“ auf Tournee zu gehen. Das Berghain in Berlin, das Tanzhaus West in Frankfurt, Bahnwärter Thiel in München, die Rote Fabrik in Zürich – große, legendäre Clubs standen als Aufführungsorte fest auf dem Reiseplan des orangefarbenen Monds, der zuletzt auch in Stuttgart aufgehen sollte, im Stadtpalais als End- und Höhepunkt des performativen Musikprojekts. Aus all dem wurde nichts. Doch nun bekommt die Location am Charlottenplatz eine zweite hippe Chance: „Sperrstunde Stuttgart“, exklusiv im Stadtpalais und ohne jegliche Tourabstecher, aber live im Stream und 48 Stunden lang, ein „Hybrid aus Museumsinstallation, Videokunst, Performance, Theater, Konzert und Club“, wie Wolpert und Frühauf sagen.

 

Sich im Rausch verlieren

Das klingt ambitioniert, lässt aber derzeit auch alle Alarmglocken schrillen. Denn Club und Clubkultur, trinkende, tanzende und schwitzende Menschen zwei pausenlose Tage und Nächte auf engstem Raum: Kann man so ein Superspreader-Event unmittelbar vor einem zweiten Lockdown verantworten? Noch dazu in einer Einrichtung, die als Stadtmuseum auch von der Stadt getragen wird? „Unser Konzept ist absolut pandemietauglich“, versichern Wolpert und Frühauf, die unter dem Label Tacheles und Tarantismus schon einige aufregende Produktionen in die Welt gesetzt haben. Alle 36 an der „Sperrstunde“ beteiligten Künstler und Techniker stünden seit einer Woche unter Quarantäne und müssten sich zwei Tage vor Projektbeginn einem Corona-Test unterziehen. Wie stark das Pandemiebewusstsein des jungen Theaterduos ausgeprägt ist, zeigt sich nicht zuletzt an seinem sanften Beharren, das Vorabgespräch im Außenbereich des Stadtpalais zu führen, um dort zwar nicht vor Kälte, aber doch vor Aerosolen geschützt über die Performance zu reden.

Clubkultur also: Das ist das Thema der interdisziplinären „Sperrstunde“, in der unsere Welt metaphorisch aufs Format eines Techno-Tempels heruntergebrochen werden soll. „Wir untersuchen den Club als Erlebnisraum von Menschen, deren Identitäten sich in Rausch und Hedonismus auflösen“, sagt Tobias Frühauf, der Autor und Dramaturg, „wir stellen eine Mikronation her und fragen, ob Anarchie als Gesellschaftsmodell funktionieren kann.“ Wie in einem Labor soll die von Philosophen wie Max Stirner inspirierte Utopie auf die Probe gestellt werden, mit enormem Aufwand an Licht und Ton, mit DJs und Livemusikern für treibende Rhythmen sowie Schauspielern, die tatsächlich 48 Stunden auf der Spielfläche im Stadtpalais-Foyer ausharren müssen. Ihnen gönnt der Regisseur Philipp Wolpert immerhin einen „Safe Space“ für Rückzug und Schlaf und für andere Bedürfnisse den Gang zur Haustoilette. Dazu müssen sie dann die Blase verlassen, die – im Wortsinn – aufgebaut wird: Raumhoch ist der von den Stützsäulen des Foyers begrenzte 100-Quadratmeter-Raum mit Cellophan umspannt.

Jung, frisch, kühn

Kein Aerosol dringt nach außen – und natürlich ist auch die Clubblase metaphorisch zu verstehen in dieser Koproduktion des Stadtpalais mit dem Schauspiel und dem Popbüro. Obwohl erst Mitte zwanzig, haben sich Wolpert und Frühauf mit ihren jungen, frischen, kühnen Projekten schon ein dichtes Netzwerk geknüpft, weshalb sie auch Spieler wie Jannik Mühlenweg aus dem Kosminski-Ensemble und Johan Jürgens aus dem früheren Petras-Ensemble, derzeit in „Babylon Berlin“ zu sehen, für ihre 48-Stunden-Performance gewinnen konnten. Die am Freitag, 18 Uhr, beginnende „Sperrstunde“ wird auf den Webseiten der Kooperationspartner live gestreamt. Im Stadtpalais selbst ist sie während der regulären, nur zum Start leicht erweiterten Öffnungszeiten des Museums zu sehen – und nicht, wie ursprünglich geplant, rund um die Uhr. „Das wäre das falsche Corona-Signal gewesen“, sagen die auf Nummer sicher gehenden, in der Kälte bibbernden Theatermacher.

Termin Die „Sperrstunde“ läuft als Performance von Freitag, 18 Uhr, bis Sonntag, 18 Uhr. Live im Stadtpalais ist sie am Freitag von 18 bis 21 Uhr, am Samstag und Sonntag von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Als Livestream auf www.stadtpalais-stuttgart.de und den Webseiten der Kooperationspartner.