Was die Partnerstädte Mumbai und Stuttgart verbindet und trennt – Eindrücke des Inders Sachin Virkar, der in Stuttgart studiert hat. Wenn er an die indische Metropole denkt, weiß er: auch in der Unordnung gibt es ein System.

Freizeit & Unterhaltung: Anja Wasserbäch (nja)

Stuttgart - Mumbai undStuttgartfeiern 50 Jahre Städtepartnerschaft; aus diesem Anlass hat soeben eine Stuttgarter Delegation die indische Megacity besucht. Der gelernte Drucktechniker Sachin Virkar kennt beide Städte sehr gut. Uns hat er seine Eindrücke erzählt . . .

 
. . .  zum Verkehr

In Mumbai und seinen Vororten leben mehr als 20 Millionen Menschen, die sich Tag für Tag von A nach B bewegen. Das ist natürlich etwas komplett anderes als in Stuttgart. In den Bahnen in Mumbai ist es voll und heiß. In Stuttgart hat fast jeder Platz. Man kann hier sehr viel schneller von einem Ort zum anderen kommen. Weil man in Mumbai jedoch viel Zeit in der Bahn verbringt, verabredet man sich mit Kollegen oder Freunden, man plauscht, isst und feiert dort auch Geburtstag. Man nimmt das Leben, wie es kommt, und macht das Beste daraus. Überhaupt verbringt man viel Zeit in öffentlichen Verkehrsmitteln. Und die nutzt man. Das ist schön, und das gibt es so wahrscheinlich nur in Mumbai.

Ich war 1995 zum ersten Mal in Deutschland, stieg in einen gefederten Bus am Flughafen. Dieses Bild habe ich immer noch in Erinnerung. Dieser Perfektionismus steht für mich für Deutschland. Das Land entwickelt sich stetig weiter. Doch wenn man hier im Straßenverkehr einen Fehler macht, etwa eine Ausfahrt vergisst, muss man einen großen Umweg machen, um wieder auf die richtige Straße zu kommen. Alles ist toll ausgeschildert, Fehler können und dürfen eigentlich nicht passieren. In Mumbai ist es genau andersherum: Nichts ist ausgeschildert. Aber man kann einfach überall umdrehen, und das im größten Chaos. Sogar in dieser Unordnung gibt es ein System. Ich freue mich über jede Gelegenheit, in Deutschland Auto zu fahren. Die Leute sind allerdings sehr schnell genervt, wenn man falsch fährt. Der Inder hupt zweimal, dann ist alles gut.

. . . über Familie

An der Hochschule der Medien in Stuttgart waren viele Studenten, die allein wohnten und am Wochenende zu ihren Eltern gefahren sind. Diese Verbundenheit zur Familie ist in Indien ähnlich. Oft ist es so, dass man nach Heirat und Kinderkriegen wieder in die Nähe der Eltern zieht oder sogar ganz mit ihnen zusammen. So ist die Versorgung im Alter gesichert. Man kümmert sich um seine Angehörigen und ist für seine Eltern da.

. . . übers Meckern

Die Menschen, die in Mumbai geboren und aufgewachsen sind, sind an sich sehr tolerant gegenüber anderen Religionen und anderen Menschen. In der Stadt läuft so viel schief, da regt man sich nicht mehr darüber auf. Die Stadt ist in Bewegung, jeder möchte hier leben und arbeiten. Der Schwabe ist sehr stolz auf seine Stadt, aber er meckert eben auch. Einen Mumbaikar regt so schnell nichts auf. Feinstaub zum Beispiel ist ihm egal, und er hat keine Zeit für Proteste.

. . . über Wohnungsnot

Wir haben in Mumbai massive Platzprobleme. Wir sind sehr viele Menschen und haben wenig Fläche. Die Mieten kann man mit Stuttgart vergleichen, zum Teil sind sie sogar noch höher. Aber die Menschen verdienen sehr viel weniger. Deswegen leben sie zusammen mit ihren Familien. Die Armut in Mumbai ist groß. Viele Menschen leben auf der Straße. Aber niemand schläft hungrig ein. Auch ein Obdachloser bekommt etwas zu essen. Jeder in Mumbai weiß, dass er etwas tun muss, um etwas zu bekommen. Jeder hat ein Ziel vor Augen. In Stuttgart sind die Menschen auch ehrgeizig. An diesem Spruch „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ ist schon etwas dran. Das ist vielleicht eine kleine Gemeinsamkeit. Auch wenn man die Einkommen nicht vergleichen kann.

. . . über Sport

Es ist schwierig, in Mumbai Sport zu machen, eben weil wir Platzprobleme haben. Sport ist in unserer Kultur auch nicht so verankert. In Stuttgart ist Sport ein Teil vom Leben. Manche machen im Urlaub Sport, Familien gehen am Wochenende wandern.

. . . über Bildung

Ich bin sehr froh, dass ich in Stuttgart studieren konnte. In Indien gibt es sehr viel Konkurrenz, das ist hier anders. Als ich mich an der Hochschule der Medien beworben habe, lag die Quote bei acht Bewerbungen auf einen Studienplatz. In Indien sind es 300 bis 500 Bewerber auf einen Platz. Man wächst mit anderen Konkurrenzdimensionen auf, weil es sehr viele Menschen gibt. Man steht schon auf dem Spielplatz Schlange, um auf die Schaukel zu kommen, später kämpft man um Praktika und Jobs. Aber man gewöhnt sich an diese Herausforderungen. Meine Frau hat in Pforzheim studiert und arbeitet für Daimler. Unser Bezug zu schwäbischen Firmen ist groß. Ich habe in meiner Firma in Mumbai auch immer wieder Praktikanten aus Stuttgart. Es waren schon mehr als 40 Studenten bei mir, aber auch Freunde und Geschäftspartner kommen gerne. Mir ist es wichtig, den Austausch weiter zu pflegen. Leider gibt es eine neue Regelung der Regierung. Seit 2017 dürfen nur Studenten mit Bachelorabschluss ein Praktikum in Indien machen. Ich hoffe, dass sich das wieder ändert, damit Studierende von Fachhochschulen auch nach Indien kommen können.

. . . übers Essen

Der Bewohner Mumbais ernährt sich sehr gesund. Das Mittagessen nimmt er mit von zu Hause, abends wird gemeinsam daheim gegessen. Mumbai ist eine kosmopolitische Stadt. Man bekommt hier Essen aus allen Regionen Indiens und aus der ganzen Welt. Das ist in Stuttgart anders, doch Stuttgart ist auf dem besten Weg, eine internationale Stadt zu werden. Zwischen 2001 und heute hat sich auch kulinarisch viel getan. Inzwischen gibt es mehr vegetarische und indische Restaurants.

Zur Person

Sachin Virkar (38) lebt mit seiner Frau im südlichen Teil von Mumbai. In der Nähe des Shivaji- Parks, der berühmt für seine Cricket- Spieler ist. Er stammt aus einer Druckerfamilie.

Seine Eltern wollten, dass er in Deutschland studiert, weil Deutschland der Marktführer in Sachen Drucktechnik war. Neben seinem Bachelorstudium hat er Deutsch gelernt und bekam 2001 einen Studienplatz an der Hochschule der Medien. (nja)