John F. Kennedy ist im historischen Gedächtnis ewig jugendlich präsent, obwohl ihm kaum Zeit blieb, als Präsident Geschichte zu schreiben. Sein Nachfolger Lyndon B. Johnson, der von ihm den Vietnamkrieg erbte, ist dagegen fast ein Paria. Andreas Geldner beschreibt in seinem Essay eine Lektion über Schein und Sein in der Politik.

Stadtentwicklung & Infrastruktur: Andreas Geldner (age)

Stuttgart - Die Luft im Flugzeug ist stickig. In der viel zu engen Kabine, in der nach stundenlangem Warten auf dem Rollfeld schon seit Langem keine Klimaanlage mehr läuft, drängen sich zu viele Menschen um den Mann, der plötzlich zum politischen Erben geworden ist. Der Kopf des Texaners ragt über die Umstehenden heraus. Den Fotografen, die diesen historischen Moment festhalten sollen, gibt Lyndon B. Johnson genaue Anweisungen – genauso berechnend stellt er Jacqueline Kennedy ins Bild. Noch im blutbefleckten Kleid soll sie dem nicht nur vom Kennedy-Clan ungeliebten Vizepräsidenten symbolisch die Legitimation geben. Eine eilig herbeigerufene Bundesrichterin nimmt Johnson am 22. November 1963 auf dem Rollfeld von Dallas den Amtseid ab. Er weiß, mit welcher Hypothek er das von ihm lang ersehnte Präsidentenamt antritt.

 

Es ist kaum ein größerer Gegensatz denkbar als derjenige zwischen dem immer etwas zerknittert wirkenden, damals 55-jährigen Machtpolitiker und dem neun Jahre jüngeren Mann, der wenige Meter von dieser Szene entfernt in einem Sarg im Rumpf der Präsidentenmaschine liegt. Binnen eines Jahres wird Johnson einen der größten Siege einfahren, die es je bei US-Präsidentschaftswahlen gegeben hat. Doch im doppelten Schatten von Vietnam und der Legende eines als jugendlicher Märtyrer gestorbenen Vorgängers wird sein monumentales innenpolitisches Vermächtnis begraben werden – bis heute. Der bei seinem Tod erst 46-jährige John F. Kennedy hingegen wird im Gedächtnis ewig jung bleiben.

An diese Bilder wird die Welt sich erinnern

An die Bilder vom offenen Wagen, in dem der Präsident nur Stunden zuvor von Schüssen getroffen zusammengesackt ist, wird sich die Welt erinnern. Bis heute will die Mehrheit der Amerikaner nicht glauben, dass es in Gestalt von Lee Harvey Oswald ein Verlierer und Einzelgänger gewesen sein soll, der die Hoffnungen einer ganzen Generation zerschmetterte. Was wäre gewesen, wenn . . . ? Das ist eine Frage, die sich nicht nur die Amerikaner stellen. In einer alternativen Geschichte der sechziger Jahre, die der US-Publizist Jeff Greenfield jetzt veröffentlicht hat, beschließt ein 1964 wiedergewählter Kennedy den Rückzug der USA aus Vietnam – und beruhigt im Gegenzug die rassistischen Südstaaten-Konservativen der Demokraten mit vorsichtigem Taktieren bei der Bürgerrechtsgesetzgebung.

Doch solche Kompromisse musste der reale John F. Kennedy nie schließen. Er ist auf immer mit der Aufbruchstimmung vom Anfang der sechziger Jahre verbunden. In die tausend Tage seiner Amtszeit fallen mit dem Mauerbau und der Kubakrise die Höhepunkte des Kalten Krieges und die ersten Blüten der Entspannungspolitik. Der Vietnamkrieg eskalierte, und die Beatles eroberten ihr Publikum. Martin Luther King sprach auf den Stufen des Lincoln-Denkmals in Washington über den Traum von der Versöhnung der Rassen. Die Amerikaner machten erste Hüpfer um die Erde und träumten vom Sprung auf den Mond.

Kennedy erspürte den Zeitgeist des Aufbruchs

Die Welt war reif für einen immer jung, braun gebrannt und sportlich wirkenden Mann wie ihn. Die konservative Idylle der fünfziger Jahre, eine Zeit, in der laut Umfragen die Amerikaner so satt und zufrieden mit ihrem Leben waren wie nie mehr danach, war einer diffusen Unruhe gewichen. Kennedy erspürte diesen Zeitgeist. Alte Hüte waren nichts für ihn. Das kann man wörtlich nehmen: Noch nicht einmal an dem eisigen Januarmorgen, an dem er 1961 vereidigt wurde, setzte er die bis dahin selbstverständliche Kopfbedeckung auf – und wurde zum Vorboten eines radikalen Wandels der Alltagsmode.

Alles schien neu an diesem Politiker, mit dem das Zeitalter der präzise kalkulierten Imagepflege einen ersten Höhepunkt erreichte. Was wir heute als Show durchschauen würden, geschah damals auf jungfräulichem Boden. Während des Wahlkampfs bestach er in den legendär gewordenen ersten großen US-Fernsehdebatten mit Richard Nixon weniger durch die Kraft der Argumente, sondern durch seine telegene Präsenz. John F. Kennedy wusste auch die Ausstrahlung seiner Frau Jackie zu nutzen. Wenn das Weiße Haus der Kennedy-Jahre als intellektueller und kultureller Anziehungspunkt in die Geschichte einging, so lag das an ihr. Während sie einen Franzosen zum Küchenchef am Präsidentensitz machte, reichte ihrem Mann ein Hamburger.

Hier das Familienidyll, da die Affären

Die Kennedy-Ära ist aus dem Abstand eines halben Jahrhunderts betrachtet ein Lehrstück über die Macht des Scheins in der Politik. Obwohl John F. Kennedy seine Frau Jackie liebte und respektierte und seinen Kindern ein liebevoller Vater war, lebte er hemmungslos seine Affären aus – die mit Marylin Monroe ist zum Teil der Legende geworden. Kennedy hatte die Gnade der frühen Geburt: In der modernen Welt der Indiskretion, der Handyvideos, von Youtube und Twitter hätte er als Amtsträger keine Chance gehabt. Schon lang vor Antritt seiner Präsidentschaft war er chronisch krank. Seine scheinbar so gesunde, tief braune Gesichtsfarbe war auch Folge einer Behandlung mit Cortison, das seine von der Addison-Krankheit herrührenden Rückenschmerzen lindern sollte. Doch die Washingtoner Journalisten, die sich Anfang der sechziger Jahre als ein Club von Gentlemen verstanden, hielten dicht.

Kennedys Vater Joseph hatte in den fünfziger Jahren mit einer Finanzspritze für die Tageszeitung „Boston Globe“ dafür gesorgt, dass das Blatt den politischen Aufstiegs seines Sohnes in Massachusetts wohlwollend begleitete. Joe Kennedy war ein krankhaft ehrgeiziger, irisch-amerikanischer Raubauz. In den zwanziger Jahren verdiente er mit nicht immer sauberen Geschäften an der Wall Street ein Vermögen. Er betrog seine Frau Rose, deren strenger Katholizismus an Bigotterie grenzte und die ihre Kinder gefühllos behandelte, am laufenden Band. Die neun Kinder, vor allem die vier Söhne setzte er gnadenlos unter Druck.

Respekt ist eher angebracht als Heldenverehrung

Nach dem tödlichen Flugzeugabsturz des ältesten Sohnes Joseph junior im Jahr 1944 hatte der zweitälteste John F. Kennedy die Bürde des väterlichen Ehrgeizes zu tragen. Man kann es fast als ein Wunder betrachten, wie John Fitzgerald, ein mittelmäßiger Schüler und Student, zu der Persönlichkeit reifte, die während der Kubakrise 1962 zu rationalen Entscheidungen und zum Widerstand gegen die Militärs in der Lage war. Wer die Protokolle der Krise liest, dem sträuben sich angesichts der Bereitschaft der US-Generäle zum Vabanquespiel die Haare. Stanley Kubricks 1964 entstandene Filmsatire „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ wirkt vor dem Hintergrund ziemlich realitätsnah.

Respekt vor diesem Reifungsprozess wird John F. Kennedy besser gerecht als die Heldenverehrung, die er bis heute erfährt. Kennedys Politik war das, was die Amerikaner „a work in progress“ nennen – er war im positiven Sinn des Wortes wandlungsfähig. In seinem Präsidentschaftswahlkampf pflegte er die hysterische Rhetorik des Kalten Krieges und warnte die Amerikaner vor der angeblichen nuklearen Überlegenheit der Sowjetunion. Doch als Präsident lernte er aus seinen Niederlagen, deren größte die kläglich gescheiterte Invasion der Schweinebucht in Kuba zu Beginn seiner Amtszeit war. Er lernte aus seinem missglückten ersten Gipfeltreffen mit Nikita Chruschtschow vom Juni 1961 in Wien. Und er zog Lehren aus der Beinahe-Apokalypse der Kubakrise, was ihn zum Vorreiter der Entspannungspolitik machte.

Pragmatismus, verhüllt in pathetische Reden

Kennedy verhüllte seinen Pragmatismus in pathetischen Reden – so wie es das eine Zeit lang auch Barack Obama gelang. Das Kunststück, in Berlin von Hunderttausenden umjubelt zu werden, obwohl er insgeheim den Bau der Mauer mit kühlem Kalkül begrüßte, muss man Kennedy erst einmal nachmachen. Aber es ist schwer vorstellbar, dass ein länger amtierender John F. Kennedy die turbulenten sechziger Jahre unbeschadet überstanden hätte.

Das gilt vor allem für den Konflikt, der seinem Nachfolger Lyndon B. Johnson das Genick brach. Es gibt späte, skeptische Äußerungen von Kennedy über den Vietnamkrieg. Doch kurz vor seinem eigenen Tod hatte er Anfang November 1963 die Ermordung des südvietnamesischen Machthabers Ngo Dinh Diem zu verantworten. Es war John F. Kennedy, der die Zahl der US-Militärberater in dem Land massiv aufstockte. Alle für die Ausarbeitung der Vietnamstrategie wichtigen Mitarbeiter, vom Außenminister Dean Rusk über den Sicherheitsberater McGeorge Bundy bis zum Verteidigungsminister Robert McNamara fanden sich dann auch im Kabinett von Lyndon B. Johnson wieder.

Was Lyndon B. Johnson geschafft hat

Es ist die Tragik von John F. Kennedy als historische Figur, dass es für seine Leistung, die in tausend Tagen vor allem aus Ankündigungen bestand, keine Messlatte gibt. Kein Mangel herrscht aber an Verschwörungstheorien. Sie verbinden meist naive Verklärung Kennedys mit finsteren antiamerikanischen Klischees und finden auch in Deutschland fruchtbaren Boden. Vor allem die Deutschen haben Kennedy angehimmelt – extremer noch als Obama. Kennedy muss deshalb als Kronzeuge für finstere Mächte herhalten, die man in den USA bis heute am Werk sieht.

Doch wenn hinter seiner Ermordung ein reaktionärer Plan stand, dann ging er innenpolitisch schief. Nach dem Schock von Dallas wurde die umstrittene Bürgerrechtsgesetzgebung in ungeahntem Tempo durch den Kongress gebracht. Lyndon B. Johnson, der nach Kennedys Tod ans Ruder kam, war ein erfahrener Ex-Mehrheitsführer. Der Texaner sprach die Sprache des Südens und war die politische Figur zur richtigen Zeit, um einer demokratischen Partei, die in den Südstaaten mit Rassisten durchsetzt war, radikale Reformen abzuzwingen.

Rhetorik allein macht noch keinen guten Präsidenten

„Wir haben den Süden für eine Generation verloren“, sagte Johnson nach der Verabschiedung der Bürgerrechtsgesetzgebung über die Folgen für die Demokraten – und sollte recht behalten. John F. Kennedy hatte rhetorisch den Boden für den Umbruch bereitet. Ob er aber die virtuose Technik der Macht aufgebracht hätte, diese Revolution politisch durchzusetzen, diese Frage wird unbeantwortet bleiben.

Was die innenpolitische Bilanz angeht, war der wegen Vietnam verfemte Lyndon B. Johnson, der auch große Sozialprogramme durchpeitschte, ein großer Präsident. Über John F. Kennedy sagt diesen Satz kein Historiker. Kennedy als Meister der Inszenierung ist eine Hülle geblieben, in die jeder seine Projektionen füllen kann. Bei Barack Obama erlebt die Welt, dass Rhetorik noch keinen großen Präsidenten ausmacht. Sein Vorgänger Kennedy ist solchen Niederungen auf immer entrückt.