Als erstes deutsches Staatsoberhaupt wird der Bundespräsident in der Gedenkstätte Yad Vashem reden – 40 Staatschefs werden zu den Feierlichkeiten 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz erwartet.

Jerusalem - Emotionaler Auftakt einer Reise: Zu Beginn seines Besuchs in Israel hat sich Bundespräsident Frank Walter Steinmeier am Mittwoch in Jerusalem mit 25 Überlebenden des Holocaust zu einem Gespräch getroffen. Steinmeier kam am Nachmittag in den Räumen der Hilfsorganisation Amcha mit den Senioren zusammen um zuzuhören. „Ich will Ihnen versichern, dass wir um die Verantwortung Deutschlands wissen, und ihnen sagen, das dies eine Verantwortung ist, die keinen Schlussstrich kennt“, sagte Steinmeier.

 

Sie habe in Vorbereitung auf dieses Gespräch die Nacht zuvor nicht geschlafen, sagte die 92-jährige Psychologin Giselle Cycowicz. „Ich erinnere mich an alles aus diesen Jahren.“ Cycowicz war mit ihrer Familie nach Auschwitz deportiert worden, wo ihr Vater ermordet wurde. Die Befreiung erlebte sie in einem nahen Arbeitslager: „Ich habe mich gefragt, warum lächle ich nicht, warum freue ich mich nicht? Ich war an der Seele krank. Ich schaute in die Gesichter von 300 anderen Menschen. Alle standen so da.“

Cycowizc betreut als Psychologin mittlerweile viele Überlebende. Selbst sprach sie wie viele andere über Jahrzehnte nicht über das, was sie erlitten hatte. „Wann haben Sie angefangen, mit Ihren Kindern, mit Ihren Partnern zu sprechen?“, wollte Bundespräsident Steinmeier wissen. „Erst als die Enkelkinder begannen, uns zu fragen“, sagte eine Frau. „Dann haben wir begriffen: wir müssen erzählen.“ Ein Mann berichtet von seiner Auswanderung zu einem Onkel nach Guatemala – „aber dann wurde der jüdische Staat gegründet“. Ihm sei es wichtig gewesen, dass seine Kinder in einem Staat aufwüchsen, der ihnen auch gehöre.

Verantwortung im Eintreten gegen Antisemitismus erkennen

Steinmeier sagte, die Zahl der Millionen Opfer dürfe den Blick auf die Einzelschicksale nicht verstellen. Deshalb sei er sehr dankbar für die Möglichkeit mit einer größeren Anzahl von Überlebenden zu sprechen. Seine Gesprächspartner hätten ihn an die Verantwortung gemahnt, nicht zu zurückzuschauen in eine schreckliche Vergangenheit, sondern die Verantwortung heute im Eintreten gegen Antisemitismus zu erkennen.

Anlass der Reise des Bundespräsidenten sind die Gedenkfeierlichkeiten 75 Jahre nach Ende des Holocaust und der Befreiung des Vernichtungslagers in Auschwitz. Zum ersten Mal wird in diesem Rahmen ein deutsches Staatsoberhaupt in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem sprechen, wenn sich dort am Donnerstag mehr als 40 Staatschefs aus aller Welt zu einer gemeinsamen Konferenz versammeln. Im Mittelpunkt der Debatten des World Holocaust Forum wird die Frage stehen, wie die weltweit zu verzeichnende neue Welle von Antisemitismus in Zukunft gemeinsam bekämpft werden kann.

Erstmals spricht ein deutsches Staatsoberhaupt in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem

Die Einladung an das deutsche Staatsoberhaupt, in Yad Vashem zu sprechen, war schon vor mehr als einem Jahr vom Staatspräsidenten Reuven Rivlin ausgesprochen worden. Die Geste an das deutsche Staatsoberhaupt ist der Auftakt für ein auch deshalb so bemerkenswertes Gedenken, weil die beiden Präsidenten in den kommenden Tagen stets gemeinsam an die Befreiung von Auschwitz erinnern: Nach der Konferenz in Jerusalem reisen Rivlin und Steinmeier am Montag nach Auschwitz. Auf der Rückreise nach Deutschland wird Steinmeier dann von Rivlin begleitet. Beide Präsidenten sprechen am 29. Januar zur Gedenkstunde im Deutschen Bundestag. Es ist das erste Mal nach zehn Jahren, dass ein israelischer Präsident im Parlament spricht.

In Yad Vashem werden neben Steinmeier auch Rivlin sowie Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, die Präsidenten von Russland und Frankreich, Emmanuel Macron und Wladimir Putin, der amerikanische Vizepräsident Mike Pence und für Großbritanniens Thronfolger Prince Charles sprechen. Der Bundespräsident will in seiner Rede, die sicher zu den schwierigsten seiner bisherigen Amtszeit gehört, nicht allein die bleibende Verantwortung Deutschlands für den Völkermord an den europäischen Juden zum Ausdruck bringen, sondern auch den Blick in die Gegenwart und in die Zukunft richten – und allen Forderungen nach einem Schlussstrich widersprechen. Den Präsidenten treibe die Sorge um, dass heute viele Menschen und Politiker die Lösung der Probleme in neuem völkischen Denken, übersteigertem Nationalismus und Antisemitismus sehen. Dies seien neue Herausforderungen, die es zu bewältigen gelte, hießt es aus dem Bundespräsidialamt.