Am Schwarzen Donnerstag ist der Streit über Stuttgart 21 eskaliert. Zum 75-jährigen Jubiläum der Stuttgarter Zeitung erinnert sich unser Autor an einen Tag, an dem ein Polizeieinsatz Stuttgart ins Herz getroffen hat.

Stuttgart - Als ich in Berlin studierte, saß ich an einem 1. Mai am Landwehrkanal zwischen den Bezirken Neukölln und Kreuzberg mit Freunden in einem Café – plötzlich hatte es der Betreiber eilig, verscheuchte uns von der Terrasse und kettete seine Stühle mit Eisenschlössern aneinander. Kurz darauf begann eine Hetzjagd zwischen Polizisten und Linksautonomen, es flogen Pflastersteine, zischten bengalische Feuer, heulten die Sirenen. Es war eben revolutionärer 1. Mai mit traditionellem Berliner Rabatz.

 

Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass es in Stuttgart zu solchen Szenen kommen könnte. Dann kam der 30. September 2010. An diesem Morgen hatte ich einen Tipp bekommen – ich weiß heute nicht mehr von wem –, dass „es“ im Schlossgarten losgehen würde. „Es“, das waren die zuvor viel diskutierten Baumfällarbeiten im Schlossgarten – die Bäume waren Stuttgart 21 im Weg. Ein Teil des Kessels kochte vor Wut, die Parkschützer bereiteten ihren Widerstand vor, die Polizei hatte Pläne, diesen notfalls mit Härte zu brechen. Die Mischung war hochexplosiv.

Die Polizei verliert die Kontrolle

Plötzlich hörte ich Trillerpfeifen, Hunderte von Jungen und Mädchen, die sich in der nahe gelegenen Lautenschlagerstraße an einem Protest gegen das Bahnhofsprojekt beteiligt hatten, strömten in den Schlossgarten. Sie erwischten die Polizeihundertschaften, die sich in Stuttgart versammelt hatten, auf dem falschen Fuß. Von einer Anhöhe aus versuchten Einsatzleiter, ihre Leute zu dirigieren. Es war der Beginn von Chaos und Gewalt.

Dutzende von Jugendlichen kletterten auf Lastwagen der Polizei, die mit Lautsprecherdurchsagen davor warnte, dass sie Wasserwerfer einsetzen würde, wenn die Fahrzeuge nicht umgehend geräumt würden. Im Schlossgarten wurde die Lage unübersichtlich, immer mehr Stuttgarter Bürger drängten in den Park. Es waren erkennbar keine Autonomen, die meisten waren Bürger aus der Mitte der Gesellschaft. Selbst in diesem Hexenkessel hielt ich es lange für undenkbar, dass die Lage eskalieren würde. Nicht in Stuttgart.

Ein aus den Augen blutender Demonstrant

Dann kam es zu Prügeleien, die Polizei setzte Wasserwerfer ein. Eine Augenärztin behandelte in einem Zelt Demonstranten. Wenn die Polizisten ihre Schicht wechselten, gellte ihnen der Ruf „Kinderschläger“ entgegen. Das Bild des Tages: ein aus den Augen blutender Demonstrant schleppte sich auf zwei Männer gestützt davon. In der Stadt tat sich danach ein noch größerer Graben zwischen Befürwortern und Gegnern des Projekts auf. Das spürte ich schon, als ich in der Nacht erschöpft mit der Stadtbahn nach Hause fuhr.