Von wegen schnöselige Bruddler: Die Kulturredaktion der Stuttgarter Zeitung hat im Großen Haus über Jahrzehnte hinweg große Kunst gesehen und diese oft gelobt. Eine Zeitreise mit Marcia Haydée, Claus Peymann und Klaus Zehelein.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Das ist unbestreitbar: Stuttgart hat eines der schönsten Theater Deutschlands – rein äußerlich betrachtet. Das Große Haus mit seinem leicht gerundeten Säulenportal und den zehn Steinfiguren auf dem Portikus; die großzügige Freitreppe, die das Gebäude zum Vorplatz und zum Eckensee hin öffnet; dies alles mitten in der Stadt und doch vom quirligen Zentrum durch den Park wunderbar abgeschirmt – die Stadt hat großes Glück mit diesem Bau von 1912.

 

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Aber hat Stuttgart nicht nur ein schönes, sondern auch ein gutes Theater? Mit weit über 400 000 Zuschauern pro Saison zählt es zu den größten und bestbesuchten Bühnen Europas – und alle Sparten des Hauses, ob nun Oper, Ballett, Schauspiel oder Konzert, finden mit ihrer Arbeit nationale, häufig sogar internationale Beachtung. Wie schafft man das? Nun, große Kunst kommt an einem Theater dann zustande, wenn die richtigen Leute engagiert werden und Freiraum bekommen für ihre Kreativität. Am Stuttgarter Staatstheater waren es seit dem Neubeginn 1945 vor allem zwei Generalintendanten, denen es gelungen ist, die richtigen Künstler an den Eckensee zu holen: Walter Erich Schäfer (Generalintendant von 1949 bis 1972) und Hans Peter Doll (1972 bis 1985).

Wie John Cranko zum Weltstar wurde

Dabei geht die weitreichendste Personalentscheidung auf das Konto Schäfers: Als dieser 1961 den 34-jährigen und aus Südafrika stammenden Choreografen John Cranko als Ballettdirektor engagierte, galt das als gewagt. Doch Schäfer legte so den Grund für eine in dieser Form qualitativ neue Tanzkompanie – oder, wie 1969 anlässlich eines Gastspiels an der New Yorker Met die dortige Presse schrieb, für das „Stuttgarter Ballettwunder“.

Crankos Gabe bestand darin, Tänzerinnen und Tänzer zu einer Kompanie mit Ensemblegeist aufzubauen. Obwohl die Stuttgarter Solisten nicht nur am Eckensee, sondern in aller Welt bejubelt wurden – Marcia Haydée, Birgit Keil, Egon Madsen, John Cragun und viele andere –, gab es am Haus offiziell keine Primaballerinas oder Primoballerinos mehr. Alle waren als Gemeinschaft dem Tanz verpflichtet.

Cranko schuf zudem für Stuttgart eine Vielzahl von Stücken, die der klassischen, vom Publikum geliebten Tradition verpflichtet waren, aber dennoch stets Anschluss an den modernen Tanz hielten. Vor allem gelang es ihm aber, den Zuschauern mit seinem Tanz etwas zu erzählen und sie emotional zu bewegen. Seine großen Handlungsballette „Romeo und Julia“, „Onegin“, „Der Widerspenstigen Zähmung“, „Schwanensee“ sind in und für Stuttgart entstanden – ein künstlerischer Schatz, den die auf Cranko folgenden Ballettchefs Marcia Haydée und Reid Anderson sorgsam gepflegt haben und der bis heute für ausverkaufte Vorstellungen und Gastspiele in aller Welt sorgt.

Was Stuttgart mit den Bayreuther Festspielen verbindet

Aber nicht nur im Ballett, auch in der Oper spielte Stuttgart ganz vorn mit. Schäfer entdeckte den Dirigentenstar Carlos Kleiber, engagierte herausragende Sänger, gewann den Bayreuther Festspielchef Wieland Wagner für Inszenierungen am Großen Haus. Letzterer prägte für Stuttgart das Label „Winter-Bayreuth“, was ausdrücken sollte: Wer nach und vor den Bayreuther Festspielen die maßgeblichen und stilprägenden Aufführungen der Opern Richard Wagners erleben wollte, der musste nach Stuttgart kommen.

Bedenkt man, dass Baden-Württemberg und die Landeshauptstadt damals als strammes CDU-Kernland galten, überrascht im Rückblick, wie in der Schauspielsparte über viele Jahre hinweg ein derart rebellischer Geist wehen konnte. Beispielhaft dafür: der Bert-Brecht-Schüler Peter Palitzsch, der aus Ost-Berlin trotz Kaltem Krieg bereits in den 50er-Jahren regelmäßig zum Inszenieren nach Stuttgart eingeladen wurde. Nach dem Mauerbau 1961 wechselte Palitzsch zwar in die Bundesrepublik, blieb seinem rebellischen linken Geist aber stets treu – und wurde offenbar gerade deswegen 1966 zum Stuttgarter Schauspielchef berufen. Prompt gab es immer wieder Aufregung um einzelne politisch zugespitzte Inszenierungen im CDU-geführten Kunstministerium.

StZ-Kulturredakteure wie Hellmuth Karasek

Aber als Peter Palitzsch 1972 Stuttgart wieder verließ, berief man konsequent einen Nachfolger, der eher für noch mehr Streitstoffe und Debattenlust stand: Claus Peymann. Es folgten bewegte Jahre, in denen das Schauspiel Stuttgart als künstlerisch und inhaltlich stärkste Bühne Deutschlands galt.

Ruhige, ereignisarme Jahre ohne Überraschungen gab es im Stuttgarter Staatstheaterleben seit 1945 eigentlich nie – und deswegen war auch das Feuilleton der Stuttgarter Zeitung stets voller Überraschungen. Ob Siegfried Melchinger, Wolfram Schwinger, Horst Koegler, Hellmuth Karasek oder Wolfgang Ignée, die Musik- und Theaterkritiker der StZ gaben den Ton der Berichterstattung nicht nur in der Stadt an, sondern fanden auch überregional Beachtung. Die Grenzen waren manchmal fließend: Schwinger, einer der führenden Musikpublizisten, wechselte 1975 die Seiten und wurde selbst zum Operndirektor im Großen Haus.

Das Stuttgarter Publikum liebt das Große Haus

Man könnte meinen, allein schon die fast durchweg hohe Qualität des Staatstheaters reiche aus, um bundesweit von einem „Stuttgarter Modell“ zu sprechen. Dieses wurde offiziell aber erst 1993 in einem ganz anderen Sinne eingeführt: an die Stelle des bisherigen allmächtigen Generalintendanten trat nun ein Kollegium von vier gleichberechtigten Theaterintendanten – und es begann eine neue Runde ganz großer Stuttgarter Bühnenjahre mit den Chefs Klaus Zehelein (Oper), Reid Anderson (Tanz) und Friedrich Schirmer (Schauspiel). Unglaubliche sechs Mal in dichter Folge wurde die Staatsoper von den deutschen Kritikern zum „Opernhaus des Jahres“ gewählt. Andersons Ballett wurde bei aller Traditionspflege zu einer der größten Talentschmieden weltweit und genießt auf Auslandsreisen Fanjubel wie sonst nur Popstars. Und Schirmer ließ das Publikum nicht nur von seinem Gespür für junge Regisseure wie Martin Kusej oder Stephan Kimmig profitieren, sondern holte 2005 auch das Festival „Theater der Welt“ nach Stuttgart.

Natürlich gibt es auch in Hamburg, Berlin oder München großes Theater. Aber nirgendwo, das gestehen auch die dortigen Intendanten insgeheim ein, ist die Verbundenheit der Häuser mit ihrem Publikum so groß wie in Stuttgart – und damit das Interesse der Leser an einem vielfältigen Kulturteil. Bei aller Geschäftigkeit sind dem Schwaben zwei Wesenszüge eigen: der Respekt vor der Leistung des einzelnen, auch des Künstlers. Und eine tief eingefleischte Lust an der Kritik.