Am 11. März 2009 ereignet sich der Amoklauf von Winnenden und Wendlingen, eine der monströsesten Gewalttaten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das Ausmaß der Tragödie war kaum zu fassen. Unser Redakteur Thomas Schwarz berichtete von dem Amoklauf.

Manteldesk: Thomas Schwarz (hsw)

Winnenden - „Alle, die ich kenne, wissen, wo sie an dem Tag gewesen sind.“ Eine Frau aus Winnenden hat das einmal zu mir gesagt. Sie ist nicht die einzige geblieben. Und auch ich weiß noch genau, wo ich wann an „dem Tag“ gewesen bin und ich werde es mit Sicherheit nie vergessen. An jenem Tag, dem 11. März 2009, als ein Jugendlicher in seiner ehemaligen Schule und anschließend im Winnender Schlosspark und in Wendlingen 15 Menschen ermordete, bevor er sich selbst erschoss.

 

Bange Minuten im abgeschlossenen Rathaus

„Wir haben einen Amoklauf – einen Amoklauf an der Albertville-Realschule.“ Schreckensbleich sagt die Stadtsprecherin diesen Satz zu mir. Eigentlich war ich kurz vor zehn Uhr im Rathaus, weil ein Pressegespräch stattfinden sollte. Die Entfernung zur Albertville-Realschule beträgt kaum einen Kilometer. Bevor ich noch eine Frage stellen kann, betritt der Hauptamtsleiter das Büro. „Ich muss jetzt das Rathaus abschließen. Sie lasse ich aber noch raus, wenn Sie wollen.“

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Damals habe ich mich entschlossen hinauszugehen. Maßgeblich der naive Gedanke, als Berichterstatter bekäme ich im Rathaus nichts mit, bewog mich dazu. Vor dem Rathaus stehe ich kurz darauf alleine in der Altstadtgasse. Nur ein Kollege der Lokalzeitung begegnet mir dort. Wir kommen nicht weit. Bereits an der nächsten Ecke hält uns ein Polizist auf. „Gehen Sie runter von der Straße, möglicherweise steckt der Täter hier in der Altstadt.“

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Also zurück, doch auch dort geht es nicht weiter. „Die schicken Sie sofort weg“, sagt ein Stadtrat, der vom Marktplatz herkommt. Ein Hausmeister sieht uns und lässt uns wieder ins Rathaus hinein. Im Halbdunkeln des Foyers – das Licht ist aus - stehen mehrere Besucher des Rathauses. Ein banges Warten beginnt, ständig mit dem Gedanken, gleich könnten draußen Schüsse fallen.

Fassungslosigkeit über das Ausmaß der Tat

„Es gibt Tote – tote Kinder!“ Der Oberbürgermeister Bernhard Fritz kommt aus der Tiefgarage in das Rathausfoyer, Tränen in den Augen. Er war sofort zu der Schule gefahren, nachdem der Notruf eingegangen war. Die Fassungslosigkeit steht ihm und allen Umstehenden ins Gesicht geschrieben.

Was zu diesem Zeitpunkt keiner hier weiß: der 17-jährige Täter ist bereits nicht mehr in Winnenden. In der Zeit zwischen 9.33 Uhr und 9.40 Uhr hat er in der Albertville-Realschule zwölf Menschen erschossen, drei Lehrerinnen, acht Schülerinnen und einen Schüler. Auf der Flucht vor der Polizei ermordet er im angrenzenden Schlosspark einen Angestellten der Psychiatrie, nach einer zweistündigen Irrfahrt durch den Großraum Stuttgart zwei Männer in einem Wendlinger Autohaus. Nach einer Schießerei mit der Polizei erschießt er sich auf einem Parkplatz selbst.

Heute noch teilt sich für viele Winnender das Leben in ein Vor und ein Nach dem 11. März 2009. Dazu trug auch die Art der Berichterstattung einiger Medien bei. Die Kleinstadt wurde noch am selben Tag und den Wochen danach von Reportern überrannt, Betroffene auf zum Teil üble Weise bedrängt. Beim Deutschen Presserat gehen mit der Zeit 79 Beschwerden ein, zwei öffentliche und eine nichtöffentliche Rüge werden ausgesprochen.

Ein narzisstischer, leicht kränkbarer Täter

Die Motive des Täters sind in den Jahren danach von der Kriminologin Britta Bannenberg von der Universität Gießen eruiert worden. Dazu wurden die Spuren des 17-Jährigen im Internet verfolgt. Der narzisstische, leicht kränkbare Teenager fühlte sich von einer Schülerin abgewiesen, die dies wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, geschweige denn ihm einen Anlass zu der Tat gegeben hat. Die 16-Jährige ist unter den ermordeten Schülerinnen.

Den Amoklauf hatte der Junge jahrelang vorbereitet, indem er Munition aufsammelte, die sein Vater achtlos liegen ließ. Der Sportschütze hatte die Tatwaffe, eine großkalibrige Pistole, unverschlossen in einem Wäscheschrank deponiert. Wegen fahrlässiger Tötung verurteilte ihn das Landgericht Stuttgart 2013 zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, da er die Tat hätte verhindern können, wenn er Waffen und Munition sicher aufbewahrt hätte.