Nach vier Jahrzehnten verabschiedet sich Klaus Obert in den Ruhestand. Der Bereichsleiter Sucht- und Sozialpsychiatrische Dienste der Caritas wird als Experte sicher weiter gefragt sein. Er kennt noch die dunklen Seiten der Psychiatrie.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Es fällt Klaus Obert nicht leicht loszulassen, das räumt er ein. Die Arbeit ist für ihn immer auch Erfüllung gewesen. Knapp 40 Jahre lang hat er die sozialpsychiatrischen Hilfen der Stuttgarter Caritas auf- und ausgebaut, davon 20 Jahre als Bereichsleiter. Seit 2007 ist er auch für die Suchthilfe des Trägers zuständig. Doch am 30. Dezember ist Schluss, da ist sein letzter Bürotag. Wenn er die vielen Fachbücher und Biografien aus den Regalen in Kartons packen wird, was wird ihm da durch den Kopf gehen?

 

Vielleicht die Menschen, an deren Schicksal er Anteil gehabt hat. Wie „Miss Sixteen“, die er nicht so schnell vergessen wird. Gerade weil sie so rätselhaft ist. Den Spitznamen hatte die Seniorin bekommen, weil sie vier Jahre lang am Hauptbahnhof am Gleis 16 lebte. Warum geht eine Frau in dem Alter an den Bahnhof? „So etwas fasziniert mich“, sagt Obert. Sie muss „viele unschöne Erfahrungen“ gemacht haben. Nach einem Hilferuf der Bahnhofsmission lebt sie seit einem Jahr im von der Caritas betreuten Wohnen. Sie habe sich darauf eingelassen. Aber es falle ihr bis heute „unheimlich schwer, über ihre Biografie zu erzählen“, sagt Obert über die 65-Jährige.

Der Auftrag bedeutete einen Paradigmenwechsel

Vielleicht denkt er auch daran, wie alles begann, 1982, in Stuttgart. „Die Psychiatrie war in der Krise“, erinnert sich der 68-Jährige beim Abschiedsgespräch. Er selbst war damals frisch aus Triest zurück, wo er ein Jahr lang in der italienischen Reformpsychiatrie hospitiert hatte. Deren Idee faszinierte ihn: die Überwindung psychiatrischer Anstalten.

Oberts Auftrag in Stuttgart war nicht ganz so radikal, bedeutete aber ebenfalls einen Paradigmenwechsel: Im Rahmen eines Modellprojekts sollten sozialpsychiatrische Dienste aufgebaut werden. Man wollte psychisch Kranke nicht mehr in der Ferne wegsperren, sondern endlich ambulant an deren Wohnort betreuen.

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Einige der ersten Klienten, um die sich der Sozialpädagoge kümmerte, kannten es noch anders. Sie waren zuvor in Zwiefalten untergebracht gewesen – dem Ort für Langzeiterkrankte aus der Landeshauptstadt. „Wenn sie besucht wurden, war das eine Tagesreise für die Angehörigen“, schildert Obert die überwundenen Zustände. Er hatte erstmals im Studium Einblicke in eine stationäre Psychiatrie erhalten, wie man sie heute nicht mehr kennt. Den großen Badesaal im Landeskrankenhaus in Weinsberg hat er noch vor Augen: „Es gab vier Badewannen nebeneinander und eine Schwingtür mit Bullauge. Privatsphäre? Fehlanzeige.“

Einen Mann hat er tot auf dem Speicher entdeckt

Gerade mal zehn Leute waren sie 1982 im sozialpsychiatrischen Dienst in Stuttgart. Zum Vergleich: Heute seien es (ebenfalls trägerübergreifend) in dem Bereich rund 350 bis 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sukzessive kamen über die Jahre betreutes Wohnen, ein gerontopsychiatrischer Dienst, Tagesstätten und Zuverdienstmöglichkeiten hinzu. Die sozialpsychiatrischen Dienste wurden zu Gemeindepsychiatrischen Zentren (GPZ) weiterentwickelt.

Und wenn sich Obert etwas wünschen könnte, ginge diese Entwicklung weiter. Und an die GPZ würden in Zukunft stationäre Psychiatrieplätze angedockt, in Kooperation mit den Kliniken.

Was rückblickend das Herausforderndste für ihn war? Nach einem Suizid als Erster in einer Wohnung zu sein. Das sei zum Glück nur sehr selten vorgekommen. Einen Mann habe er auf dem Speicher entdeckt. „So etwas geht einem nicht aus dem Sinn.“ Er habe dann mit dafür gesorgt, dass sie Instrumente und Rituale entwickelt hätten, um solche Erlebnisse zu verarbeiten.

Lob für gutes Zusammenspiel mit Verwaltung und Politik

Obert ist ein bundesweit bestens vernetzter Experte. Weggezogen hat es ihn trotzdem nie. In Stuttgart habe die Zusammenarbeit mit den anderen Trägern, mit der Sozialverwaltung und dem Gemeinderat stets erfreulich gut funktioniert. „Wir verdanken Ihnen sehr viel“, hat Sozialbürgermeisterin Alexandra Sußmann (Grüne) Obert in der letzten Sitzung des Sozial- und Gesundheitsausschusses vor den Ferien gewürdigt. Die Caritas verabschiedet ihren langjährigen Bereichsleiter pandemiebedingt erst im Sommer 2022 mit einer Tagung. Titel: „Der Blick zurück nach vorn: Utopien und Perspektiven in der Sozialpsychiatrie und Suchthilfe“.