Die Schätzungen zum Sommeranfang waren sehr optimistisch gewesen. Doch viele Äpfel sind vor der Ernte vom Baum gefallen – und verfault. Dennoch schwärmen die Obstbauern und Gütlesbesitzer.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Gefühlsmäßig sind sich alle sicher: 2018 ist ein Rekordjahr beim Obst – so übervoll hängen die Bäume in diesem Jahr. Ein Fest der Natur. Fast möchte man Friedrich Hölderlin zitieren: „Mit gelben Birnen hänget, Und voll mit wilden Rosen, Das Land in den See.“

 

Ins Schwärmen gerät auch Martin Riedel aus Neckarhausen bei Nürtingen, Ingenieur bei Daimler, nebenberuflich Besitzer von sechs Streuobstwiesen mit rund 100 Stämmen. „Dieses Jahr ist schon besonders“, berichtet er. „Egal ob Äpfel, Pflaumen oder Mirabellen, alle Sorten sind gleich wunderbar geraten – und da es wenige Schädlinge gab, ist auch die Qualität toll.“ Riedel lädt immer Verwandte und Freunde zum Auflesen ein, jeder erhält einen Anteil, und am Ende wird mit frischem Süßmost und Zwiebelkuchen gefeiert.

Um aber etwas Wasser in den Apfelsaft zu gießen: Der Eindruck vom Rekordjahr könnte täuschen. Vor wenigen Tagen war am Bodensee die traditionelle Eröffnung der Apfelsaison: Dietmar Bahler vom Verband Obstregion Bodensee schätzte die zu erwartende Ernte für sein Anbaugebiet auf 262 000 Tonnen. Das seien sechs Prozent weniger als 2014, gab er manchem überraschten Gast zu Protokoll.

Selten war das Obst so früh reif wie in diesem Jahr

Landesweit ergab eine Schätzung des Statistischen Landesamts Anfang August den Wert von 411 000 Tonnen Äpfeln für 2018. Das wäre tatsächlich die höchste Menge seit 1992. Nach dem Totalausfall vom letzten Jahr waren die Bäume ausgeruht, haben viele Blüten angesetzt, die im warmen Frühjahr auch befruchtet wurden. Doch die Trockenheit hat das Wachstum gebremst, und viele Äpfel sind im wahrsten Wortsinn der Hitze zum Opfer gefallen, sprich vor der Zeit ins Gras gesunken. Womöglich ist die Zahl des Statistischen Landesamts deshalb zu hoch gegriffen.

Kathrin Walter, die Geschäftsführerin des Landesverbands Erwerbsobstbau in Stuttgart, bringt Gefühltes und Gewogenes zusammen, wenn sie sagt: „Es gibt vermutlich mehr Äpfel als sonst; die Gütlesbesitzer haben also wohl recht, wenn sie sagen, sie müssten mehr auflesen. Aber die Äpfel sind eben kleiner, so dass das Gesamtgewicht keine Rekordernte ergibt.“ Einig sind sich allerdings alle, dass die vielen Sonnenstunden dem Obst einen hohen Öchslegrad, also Zuckergehalt, beschert haben. Egon Treyer, der Geschäftsführer der Marktgemeinschaft Bodenseeobst, sagt: „Die Äpfel haben eine hervorragende innere Qualität und einen herausragenden Geschmack.“ Außergewöhnlich ist zudem, wie früh das Obst reif wurde. Die Firma Häussermann in Neckartailfingen (Kreis Esslingen) öffnete etwa schon am 11. August ihre ersten Annahmestellen in der Region.

Der Streuobstgürtel der Alb ist unerreicht in Europa

Damit sind wir schon abgeschweift vom sogenannten Marktobst und angekommen beim Streuobst. Die Dimensionen muss man sich tatsächlich nochmals vergegenwärtigen. Auf gut 18 000 Hektar wird in Baden-Württemberg, meist auf Niederstämmen, Marktobst angebaut – dem stehen 116 000 Hektar an Streuobstwiesen mit Hochstämmen gegenüber (allerdings mit deutlich geringerer Baumdichte). Noch immer gilt der Streuobstgürtel entlang der Schwäbischen Alb als der größte Europas.

Markus Rösler, Streuobstexperte beim Naturschutzbund Deutschland (Nabu), ärgert sich seit Jahren, dass viele immer noch so tun, als ob das Marktobst von den Profis und das Streuobst von den Amateuren komme. „Dabei werden 40 Prozent der Streuobstwiesen mittlerweile professionell genutzt“, sagt Rösler. Beim Marktobst sind 2500 Hektar im Südwesten nach EU-Bioverordnung zertifiziert, beim Streuobst 9000 Hektar. Wer das aufwendige Verfahren auf sich nimmt, will Geld verdienen mit den Wiesen.

Unverständlich ist für ihn deshalb, dass die amtlichen Erntezahlen noch immer ausschließlich auf dem „Plantagenobst“, wie er es nennt, beruhen. Wie viel auf den Streuobstwiesen geerntet wird, weiß in der Tat niemand genau. Eine Zahl immerhin gibt es: Der Verband der deutschen Fruchtsaft-Industrie erwartet eine sehr gute Streuobsternte mit 1,1 Millionen Tonnen, davon allein 600 000 Tonnen aus Baden-Württemberg, wo es nicht ganz so trocken war wie im Rest des Landes.Wer seine Äpfel in eine der Annahmestellen bringt, erhält 2018 laut einer Umfrage bei drei Firmen sieben bis acht Euro pro Doppelzentner. „Das ist mehr, als man bei einem so guten Jahr erwarten sollte“, sagt André Erz vom Fruchtsafthersteller Burkhardt in Laichingen (Alb-Donau-Kreis). Die Tanklager sind nach dem katastrophalen Jahr 2017 leer, weshalb die Hersteller mehr bezahlen. Den Preis gäben übrigens nicht sie vor, sondern die Großen der Branche. Baywa etwa: Das Unternehmen hat allein einen jährlichen Absatz von 200 000 Tonnen Kernobst.

Wer auf „Bio“ umsteigt, erhält einen dreimal höheren Preis

Hoch genug sei der Preis aber bei Weitem nicht, betont Markus Rösler. Um einen echten Ertrag zu haben, müssten 25 Euro pro 100 Kilo bezahlt werden. Auch aus diesem Grund steigen viele auf Bio um – dann erhöht sich der Preis auf 20 Euro und mehr. Bei Burkhardt werden die Äpfel innerhalb von 24 Stunden verarbeitet, acht Millionen Liter passen in die Tanks hinein. Insgesamt schätzt Erz, dass sein Unternehmen dieses Jahr 12 000 Tonnen annimmt; in normalen Jahren seien es 8000 bis 10 000 Tonnen.

Viele Gütlesbesitzer geben ihr Obst aber nicht mehr ab, sondern wollen ihren Saft mit nach Hause nehmen. Seit Kriegsende hat sich ein großes Mosterei-Sterben ereignet – damals gab es in Deutschland 3000 Obstkeltereien, heute sind es weniger als 500. In Baden-Württemberg gibt es laut Nabu 70 Mostereien. Doch seit Streuobstwiesen für manche Teil ihres Lebensgefühls geworden sind und seit das Verfahren Bag-in-Box erfunden wurde, ist eine kleine Trendwende zu spüren. Der Saft wird noch in der Mosterei auf 78 Grad erhitzt und bleibt so lange haltbar; früher lief man mit Edelstahlfässern und Schwimmdeckel immer Gefahr, dass der Saft kippte.

Die Kosten für eine Fünf-Liter-Box liegen bei rund fünf Euro. Dafür könnte man im Laden leicht, ganz ohne schmerzenden Rücken vom Auflesen, die gleiche Menge Apfelsaft kaufen. Aber es wäre nicht der eigene. Und ein Streuobstwiesenfest mit Zwiebelkuchen kann man mit Tütenapfelsaft aus Konzentrat nur leidlich feiern.