In einer alternden Bevölkerung sind Hausbesuche so wichtig wie selten zuvor. Trotzdem findet sich nicht immer ein Arzt, der sie auch macht. Warum ist das so? Eine Spurensuche auf der Filderebene.

Filder - Hinter Elisabeth Maier liegen harte Monate. Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie habe sie ihre Wohnung in Möhringen kaum mehr verlassen, erzählt die Dame, die ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Der Pflegedienst komme nur noch zweimal in der Woche, Lebensmittel und Medikamente bestelle sie online. Und das alles, um eines zu verhindern: Seit 15 Jahren ist ihr Mann ein hundertprozentiger Pflegefall, für ihn wäre eine Corona-Infektion lebensgefährlich.

 

Sogar dem Hausarzt, der bislang alle zwei Wochen vorbeischaute, bleibt deshalb die Tür verschlossen. Einst waren die Hausbesuche ein wichtiges Ritual bei den Maiers – in der Pandemie sind sie zum unnötig großen Risiko mutiert. „Nur im Notfall bitte ich den Arzt, zu kommen“, sagt Maier. Ganz ohne medizinische Expertise gehe es eben doch nicht, räumt sie ein. „Ohne Hausbesuche könnten wir gar nicht überleben. Wie sollte das denn gehen?“

Ein Marathon mit über 11 000 Hausbesuchen an jedem Arbeitstag

Mit der Auffassung ist sie nicht allein. 2,8 Millionen Hausbesuche verzeichnete die Kassenärztliche Vereinigung im vergangenen Jahr allein für Baden-Württemberg. Statistisch gesehen absolvierten die Ärzte im Südwesten damit an jedem Arbeitstag einen Marathon aus über 11 000 Außer-Haus-Visiten. Eine Zahl, die in den kommenden Jahren weiter steigen dürfte: In den Patientenkarteien ist der demografische Wandel längst angekommen – auch auf den Fildern.

Wenige können dort die Entwicklung besser nachzeichnen als Stefan Dipper. Seit über 30 Jahren betreibt der Arzt eine Praxis in Stuttgart-Degerloch, Hausbesuche gehören für ihn schon immer dazu. „Ich reiße mich nicht darum, mache sie aber, weil sie einfach notwendig sind“, sagt der Mediziner, der als Geriater auf Alterserkrankungen spezialisiert ist.

In Stuttgart-Degerloch ist das Ärztenetz engmaschig

Zu aufwendig, zu zeitintensiv, kaum wirtschaftlich – die Liste der Kritikpunkte zu Hausbesuchen ist lang, auch Stefan Dipper kann sie problemlos herunterbeten. Viele seiner Kollegen würden daraus diese Schlüsse ziehen: „Immer weniger Ärzte machen noch Hausbesuche.“ Mitten in Degerloch sei das verkraftbar, ein engmaschiges Netz aus Arztpraxen könne die Versorgungslücke schließen. „Auf dem Land sieht es da aber schon ganz anders aus“, so Dipper.

Zumindest die zeitraubenden Besuche in Pflegeheimen bezuschussen die Krankenkassen mittlerweile in besonderem Maße. Und auch sonst sei der Kostendruck gesunken, glaubt der Mediziner. „Das Finanzielle sollte niemanden mehr daran hindern, Hausbesuche zu machen.“ Pro Visite können 23,29 Euro zusätzlich abgerechnet werden, hinzu komme ein Fahrtgeld zwischen 3,55 und 10,13 Euro. So rechnet es die Kassenärztliche Vereinigung vor.

Allein 100 Patienten in stationären Pflegeeinrichtungen

Bleibt der zeitliche Nachteil eines Hausbesuchs: „Natürlich bedeutet es einen immensen Organisationsaufwand, wenn ich neben den Präsenzzeiten in der Praxis mit Außer-Haus-Terminen jonglieren muss“, sagt Dipper. Auf allein 100 Patienten bringe er es derzeit in den stationären Pflegeeinrichtungen, die er betreut. Hinzu kämen regelmäßige Besuche bei hochaltrigen Menschen, die ihren Lebensabend in den eigenen vier Wänden verbringen möchten. „Es vergeht eigentlich kein Tag, an dem ich nicht zu einem Hausbesuch aufbreche.“

Einer, der das nicht mehr hinnehmen möchte, findet sich nur wenige Kilometer von Degerloch entfernt in Filderstadt-Sielmingen. Früher habe er manchmal 20 Besuche an einem Tag gemacht, sagt der Allgemeinarzt Robert Schweizer, während er durch seinen Tischkalender blättert. Ein kurzer Blick auf die aktuelle Woche reicht aus, um den Unterschied zu erkennen: Neben den Sprechstunden in der Praxis klafft eine riesige Lücke. Drei Außer-Haus-Termine binnen einer Woche, lautet seine Bilanz. „Mein Rekord in den 1990er Jahren lag bei 30 Besuchen an einem einzigen Tag. Da brauchst du danach kein Fitnessstudio mehr“, erzählt der 68-Jährige und lacht.

„Es ist zeitaufwendig, es ist stressig, es frisst Benzin“

Falsch verstanden werden möchte er damit aber nicht. „Ich halte Hausbesuche weiterhin für wichtig. Bei Leuten, die nicht mehr gut laufen können, sind sie geradezu unabdingbar.“ Lange Tagestouren über die Filder versucht er allerdings zu vermeiden. „Es ist zeitaufwendig, es ist stressig, es frisst Benzin. Und in Sielmingen wartet die Praxisarbeit auf mich“, zählt er seine Gründe auf. „Heute können ambulante Pflegedienste oder Angehörige die regelmäßige Versorgung übernehmen.“ Außerdem gebe es auf der Filderebene heutzutage viel mehr Ärzte als früher. „Ich kenne keinen Ort, an den ich fahren müsste, weil es dort sonst keine Praxis gibt“, so Schweizer.

An Praxen mangelt es in Degerloch auch nicht; den Pflegediensten möchte Stefan Dipper seine Arbeit trotzdem nicht überlassen. „Ich finde, es gehört zum hausärztlichen Selbstverständnis dazu, dass ich die regelmäßige Versorgung meiner Patienten übernehme“, sagt er.

Noch muss der Hausarzt draußen bleiben

Auch in der Corona-Zeit habe diese Prämisse gegolten, so Dipper. Die Zahl der Hausbesuche sei dennoch stark zurückgegangen. „Anfangs habe ich fast keine mehr gemacht. Jetzt trauen sich die Patienten langsam wieder zurück.“ Eine Maske muss sich der Mediziner natürlich auch beim Einsatz in fremden Wohnungen überstülpen – in den Pflegeheimen hantierte er zeitweise sogar mit Ganzkörperanzügen.

Vorerst weiter auf einen Arzt verzichten möchte indes Elisabeth Maier. Ob ihr der medizinische Rat im Haus fehlt? „Na ja, die wissenschaftliche Fachkenntnis ist auf Dauer unumgänglich. Für einen Arzt ist es ja genauso wichtig, den Verlauf einer Erkrankung zu beobachten“, sagt sie. Noch bleibt die Haustür der Maiers eine der wenigen Türen, die auf Stefan Dippers Weg durch die Stadtbezirke verschlossen bleibt. Erst wenn die Infektionsgefahr gebannt sei, so Maier, dürfe er wieder vorbeischauen.