Der Ärztemangel zwingt die Kassenärztliche Vereinigung zu ungewöhnlichen Maßnahmen. Sie steigt nun in den Betrieb von Praxen ein - und folgt damit ostdeutschen Beispielen.

Stuttgart - Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) sieht sich im Kampf gegen den Ärztemangel im Südwesten gezwungen, eigene Hausarztpraxen zu betreiben. 20, 30 solcher Praxen im Südwesten halte er für realistisch, sagte KV-Vize Johannes Fechner am Montag in Stuttgart. „Das ist eine Notfallmaßnahme für einen begrenzten Zeitraum“, erläuterte KV-Chef Norbert Metke. In Ostdeutschland gebe es das Modell schon seit Jahren, wobei in etlichen Fällen die von der KV angestellten Ärzte schließlich die Praxis übernähmen.

 

Mit dieser Neuerung wird laut KV im Südwesten bereits in diesem Jahr begonnen - wo genau, gab sie nicht bekannt. Die betroffenen Kommunen wünschten das nicht, denn sie sähen darin einen Standortnachteil.

Rückenwind bekamen die Kassenärzte von Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne). Er forderte überdies von der neuen Bundesregierung eine bundeseinheitliche Lösung, um Klinik- und Praxisversorgung sowie Pflege und andere Gesundheitsdienstleister besser zu verzahnen.

Millionenschwerer Masterplan

Die SPD im Landtag nimmt vor allem die Landesregierung in die Pflicht. Sie negiere den Ärztemangel, weil sie nach wie vor behaupte, in allen Regionen Baden-Württembergs sei sowohl bei den Hausärzten als auch den Fachärzten eine ausreichende Versorgung gegeben, sagte Gesundheitsexperte Rainer Hinderer. Eine Sprecherin Luchas sagte, wenn das Land die Problematik negieren würde, würde es keine millionenschweren Förderprogramme auflegen.

Der ungewöhnliche Schritt der KV gehört zu einem millionenschweren Masterplan. Dieser soll helfen, mit den bereits jetzt 500 vakanten Hausarztstellen - und weiteren 500 in den kommenden fünf Jahren - umzugehen. So sollen Übernahmen und Neugründungen von Praxen sowie die Anstellung von Ärzten in schlecht versorgten Gebieten gefördert werden. Außerdem würden rund 800 Ärzte im Land angesprochen, die aktuell nicht in ihrem Beruf arbeiten. Ein Hospitationsprogramm soll solche Mediziner wieder an die ambulante Versorgung heranführen.

Viel Hoffnung setzt die KV auch auf den Einsatz nicht-ärztlicher Praxisassistentinnen, die die Ärzte entlasten sollen. Allein dafür stehen 16 Millionen Euro zur Förderung bereit. Vorstellbar sei auch eine Ausweitung der telemedizinischen Betreuung, die ab April in Stuttgart und Tuttlingen erprobt wird.

Auch die stationäre Versorgung ist betroffen

Das Land hat mit seinem Landärzteprogramm seit 2012 mehr als 100 Ärzte mit 1,8 Millionen Euro gefördert. Doch nach Angaben der KV ist der Fachkräftemangel kein reines Problem ländlicher Regionen mehr - selbst in Stuttgart seien 18 Prozent der Hausarztsitze nicht mehr besetzt. Trotz des Bündels an Gegenmaßnahmen müssten sich ambulante Patienten auf längere Wege, Wartenzeiten und weniger Zeit beim Hausarzt einstellen, sagte KV-Chef Metke.

Der Fachkräftemangel betrifft auch die stationäre Versorgung. Laut der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft (BWKG) sind bei den Kliniken 400 ärztliche Stellen und 1200 Pflegestellen unbesetzt. „Diese Lücke hat direkte Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter und wird zunehmend auch die Versorgung der Patienten beeinträchtigen“, warnte BWKG-Chef Detlef Piepenburg. Die Berufe müssten attraktiver werden. Ein großer Beitrag dazu wäre der Abbau der Bürokratie.

„Es ist nicht mehr länger haltbar, dass ein Arzt sich mit rund 80 Formularen herumschlagen muss“, betonte auch der FDP-Abgeordnete Jochen Haußmann. Aus BWKG-Sicht kann sich das Gesundheitswesen eine „Misstrauenskultur“ in Form hoher Anforderungen der Krankenkassen an Dokumentationen angesichts des Fachkräftemangels nicht mehr leisten.

Die Forderungen der Gewerkschaft Verdi bei der laufenden Tarifrunde an den Unikliniken zur Entlastung der Pflegekräfte führen aus BWKG-Sicht zu einer weiteren Arbeitsverdichtung. In einem Punkt sei er mit der Gewerkschaft aber einig, sagte Piepenburg: „Wir brauchen mehr Wertschätzung der Pflege.“