Glaubt man den statistischen Zahlen, ist die ärztliche Versorgung in Stuttgart gut. Wer einen Termin braucht, macht aber oft ganz andere Erfahrungen. Warum ist das so?

Stadtleben und Stadtkultur : Alexandra Kratz (atz)

Filder - Die Versorgung mit Hausärzten in Stuttgart ist gut. Statistisch gesehen liegt sie bei 101 Prozent. In absoluten Zahlen heißt das, dass in der Landeshauptstadt 459 Hausärzte praktizieren. „In Möhringen gab es vor Kurzem einen Generationenwechsel in zwei Praxen. Das zeigt, dass es für Ärzte in Großstädten nach wie vor attraktiv ist“, sagte Peter Hinz kürzlich im Bezirksbeirat. Der Vorstandsbeauftragte der am Albstadtweg beheimateten Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) war in das Gremium gekommen, um über die ärztliche Versorgung zu berichten. Er folgte damit dem Wunsch der Lokalpolitiker.

 

Hinz hatte auch einige Vergleichszahlen dabei, um zu belegen, wie gut die Situation in der Landeshauptstadt ist. So liegt die hausärztliche Versorgung in Esslingen bei nur 88 Prozent und in Böblingen bei 90 Prozent. In ländlichen Regionen sei die Situation teils noch viel dramatischer.

Gute Versorgung, lange Wartezeiten

Bei den Fachärzten sieht es in Stuttgart statistisch gesehen sogar noch besser aus. Die Chirurgen liegen bei der Versorgungsquote vorn mit 161,3 Prozent, gefolgt von den Psychotherapeuten mit 130,7 Prozent und den Orthopäden mit 129,3 Prozent. Etwas mauer ist die Situation bei den Frauenärzten (111,7 Prozent), den Augenärzten (109,8 Prozent) und den Hals-Nasen-Ohren-Ärzten (106,9 Prozent). Zu wenige Fachärzte gibt es in Stuttgart eigentlich nur im Bereich Kinder-und Jugendpsychiatrie mit einem Versorgungsgrad von 53,1 Prozent. Die Zahlen stammen vom 4. Juli 2018.

Die Statistik würde ein positives Bild vermitteln, sagte Ingrid Schulte (SPD). Sie sei jedoch nur Theorie. Denn immer wieder höre sie von Möhringern, dass sie insbesondere bei Fachärzten lange auf einen Termin warten müssen, so die Lokalpolitikerin. „Es gibt Wartezeiten bei Terminen. Bei akuten Fällen kommt man aber immer dran“, antwortete Hinz.

Grund 1: gedeckeltes Budget

Das Problem sei die Budgetierung. Seit der Gesundheitsreform von 1993 dürfen Ärzte pro Quartal für alle Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung nur noch eine bestimmte Geldmenge ausgegeben. Gleichzeitig darf aber jeder so oft zum Arzt gehen, wie er will. Um das mathematisch zusammenzubringen, bekommen Ärzte von den gesetzlichen Krankenkassen nur eine bestimmte Anzahl an Patienten pro Quartal bezahlt. Es gebe Schätzungen, dass Fachärzte etwa zehn Prozent ihrer Patienten behandeln, ohne dass sie dafür Geld bekommen, sagt Kai Sonntag. Er ist der Leiter der Pressestelle der Kassenärztlichen Vereinigung. Weil auch der Arzt rechnen muss, führt diese Budgetierung zu einer künstlichen Verknappung der Termine.

Grundsätzlich müsse man aber auch feststellen, dass die Deutschen im europäischen Vergleich sehr viele Arzttermine haben. „Vielleicht muss sich der Einzelne auch etwas zurücknehmen, damit ein Arzt mehr Zeit für alle hat“, sagte Hinz im Bezirksbeirat.

Grund 2: feste Kontingente

Ein weiteres Problem ist die Kontingentierung von Arztsitzen. Auch diese wurde 1993 vom Gesundheitsministerium eingeführt, um die Kosten einzudämmen. Damals wurde festgelegt, wie viele Ärzte sich aus welchen Fachgebieten in welcher Region niederlassen dürfen. Ab einem Versorgungsgrad von 110 Prozent dürfen sich theoretisch keine weiteren Ärzte mehr niederlassen. Diese statistische Grenze wird im Stadtgebiet Stuttgart bei fast allen Fachärzten geknackt. Die Krux aus der Sache: Die Zahl ist politisch festgelegt. „Sie spiegelt nicht wider, was wir für eine gute ärztliche Versorgung brauchen“, erklärt Kai Sonntag auf Nachfrage.

Fred Wagner (CDU) stellte in der Sitzung des Bezirksbeirats fest, dass manche Praxen Privatversicherte bevorzugen würden. In der Tat haben es Privatpatienten in diesem Punkt einfacher. Denn in diesen Fällen stellt der Arzt seine Leistungen zunächst direkt dem Patienten in Rechnung, und oft kann er sogar höhere Sätze abrechnen. „So kommt es, dass Ärzte ihre Kassenpatienten mit Privatpatienten subventionieren“, sagte Hinz.

Manche Ärzte behandeln nur noch Privatpatienten

Manche Ärzte steigen sogar aus dem gesetzlichen Versicherungssystem aus und nehmen nur noch Privatpatienten. Das ist unter den voll erwerbstätigen Ärzten aber eher die Ausnahme. Denn: „Wer eine Kassenzulassung hat, ist verpflichtet, Kassenpatienten zu behandeln, und zwar mindestens 20 Stunden in der Woche“, sagt Sonntag. Die Zahl solle auf 25 Stunden erhöht werden. Das werde sich aber nur bedingt auswirken, weil sich die meisten Ärzte mit Kassenzulassung sowieso deutlich mehr als 20 Stunden in der Woche Kassenpatienten widmen. Generell gelte, dass Notfälle immer behandelt werden müssen. Von diesen Vorgaben abgesehen, haben aber auch Ärzte mit einer Kassenzulassung einen bestimmten Spielraum. Das heißt, sie können Patienten ablehnen, beziehungsweise sie auf einen Termin im nächsten Quartal vertrösten, wenn wieder ein neues Budget zur Verfügung steht.

Auf die Stadtbezirke heruntergebrochene Daten gibt die Kassenärztliche Vereinigung nicht raus. Das wäre nicht sinnvoll, sagt Sonntag. „Wir wissen natürlich, wie viele Ärzte in einem Stadtbezirk tätig sind. Aber ein Möhringer geht auch mal in Degerloch zum Arzt. Darum betrachten wir die Patientenströme weiträumiger.“