Die Reise von Chefberater Dominic Cummings trotz Ausgangssperre wächst sich zu einer politischen Krise aus. Weil der britische Premierminister seinen Vertrauten verteidigt, gerät er nun selbst unter Druck – auch aus der eigenen Partei.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Am Wochenende hatte Boris Johnson noch geglaubt, dass er den Wirbel um seinen Chefberater Dominic Cummings durch eine knappe Vertrauens-Bekundung beenden könne. Das erwies sich als Irrtum im Downing-Street-Kalkül. Nachdem am Sonntag schon die ersten konservativen Abgeordneten ihrem Unmut über die „Cummings-Affäre“ Luft gemacht hatten, weitete sich die Empörung am Montag weiter aus – und richtete sich immer mehr gegen das Kabinett und den Regierungschef selbst.

 

Kritik von den Medien

Die Daily Mail, eins der loyalsten Tory-Blätter, fragte auf ihrer gestrigen Titelseite: „Auf welchem Planeten leben die denn?“ Prominente britische Seuchenforscher kündigten Johnson die Gefolgschaft auf und warnten, dass die Regierung „den Kampf gegen das Coronavirus auf fatale Weise untergraben hat“.Britanniens Bischöfe, sonst eher stille Zeitgenossen, gaben alle Zurückhaltung auf und warfen dem Premierminister vor, „lächerlich“ zu argumentieren, „keinerlei Respekt für die Bevölkerung“ zu zeigen und es „an Redlichkeit fehlen“ zu lassen. „Jetzt bleibt doch nur eine Frage“, fand Nick Baines, der Bischof von Leeds, zornig. „Akzeptieren wir, dass man uns belügt und herablassend behandelt? Dass der Premierminister so tut, als wären wir blöd?“ Am Ende sah sich Dominic Cummings selbst veranlasst, eine Erklärung zu seinem „Fall“ abzugeben.

Was schon wieder gegen alle Konvention war: Regierungsberater äußern sich sonst nicht öffentlich. Aber bei diesem Berater hat Johnson immer eine Ausnahme gemacht. Und bei seinem Auftritt im „Rosengarten“ hinter dem Regierungsgebäude bekräftigte Cummings nur immer wieder, dass er sich „vernünftig“ verhalten habe. Für ihn war es Schuld „der Medienberichte der letzten Tage“, dass ein „falscher Eindruck“ über sein Verhalten entstanden war.

Eltern 400 Kilometer entfernt besucht

Ausgelöst hatte den jüngsten Sturm der Erregung ja die stillschweigende Fahrt Cummings mit Frau und Kind zu Cummings Eltern in Durham, 400 Kilometer entfernt von London – in krasser Missachtung aller Lockdown-Bestimmungen, die Cummings zuvor zu entwickeln und zu propagieren half.

So recht in Gang war „die Affäre“ aber erst gekommen, als Boris Johnsons versuchte, das Verhalten seines wichtigsten Mitarbeiters mit ein paar lockeren Worten zu entschuldigen. Cummings „Vaterinstinkte“ hätten seinen „verantwortungsbewussten“ Berater begreiflicherweise dazu gebracht, eine Adresse anzulaufen, an der sein vierjähriger Sohn richtig umsorgt wäre, meinte Johnson. Zumal Cummings Frau schon Symptome zeigte und er befürchtete, ebenfalls angesteckt zu sein.

Begreiflich fanden diese Flucht aus London aber nur wenige Briten. Ihnen selbst ist seit Wochen bei Strafe verboten, ihren „Instinkten“ zu folgen und im Falle von Erkrankungen den Lockdown zu brechen. Noch im Laufe des Montag meldeten sich Tausende aufgebrachter Mitbürger mit Berichten über die persönlichen und familiären Opfer, die sie selbst seit März gebracht haben, um Quarantäne-Vorschriften einzuhalten. „Nun lernen wir also“, erklärte Bischof Baines, „dass es eine Vorschrift fürs Volk gibt und eine andere für No 10 und die Elite im Land“.

Spott gegen Boris Johnson

Spöttische Kommentare zogen sich auch all die Minister Johnsons zu, die auf Geheiß des Premiers Cummings Aktion eilends verteidigten. Besonderen Respekt hatte sich, zum Beispiel als Johnson selbst erkrankt und abwesend war, keins seiner Kabinettsmitglieder verschafft. Was die Corona-Krise auf schmerzliche Weise ans Tageslicht brachte, war eher ein Mangel an Kaliber, an echtem Talent in Johnsons Kabinett. Umso mehr war Johnson immer auf Dominic Cummings, als auf seinen Vordenker, angewiesen.

Seinerseits ohne sonderlich differenzierte Zukunfts-Visionen, schob der Briten-Premier seinem Top-Berater praktisch die Vorgabe britischer Regierungspolitik zu. Als mächtigsten ungewählten Operateur aller Zeiten in Downing Street haben Cummings von Anfang an seine Gegner gesehen. Seine Sonderstellung wusste Dominic Cummings zu nutzen, indem er seine Kontrolle über Minister und Ministerien konsequent ausdehnte. In Sachen Coronavirus folgte Johnson offenbar willig seinem Rat, erst in dieser, dann in einer anderen Richtung.

Nicht mehr auf der Seite der kleinen Leute

Auch der weitere unbeirrte Kurs Londons zum Jahresende-Ziel eines knallharten Brexit geht auf Cummings Vorstellungen zurück. Wie sehr sich Johnson von seinem Berater abhängig gemacht hat: Das hat zuletzt auch viele Konservative erschreckt. Was sich anfangs noch wie eine Affäre um eine unerlaubte Fahrt nach Nordengland ausnahm, geriet zu einer Frage von nationaler Bedeutung.

Am Montag fragten auch Johnsons Parteigänger offen, wer denn nun eigentlich das Sagen habe in No 10 Downing Street. Indem er Cummings dessen Verstoß gegen geltende Bestimmungen durchgehen ließ, ist Boris Johnson jedenfalls ein gewaltiges Risiko eingegangen. Der Briten-Premier hat sich dem gefährlichen Vorwurf ausgesetzt, nicht mehr aufseiten der „kleinen Leute“ zu stehen. Dieselben Politiker, die bisher „im Namen des Volkes“ vehement gegen „die Elite“ antraten, kommen ihren Landsleuten nun selbst wie eine Elite vor, die sich nicht an irgend welche Regeln gebunden fühlt.