Nach 30 Jahren im Dämmerschlaf zeigt sich die Aicher Traditionswirtschaft wieder in neuem Glanz. Bei den Umbauarbeiten hat der Architekt einige interessante Entdeckungen gemacht.

Aichtal - Christoph Kolumbus hatte noch nicht Amerika entdeckt, da sind am Schönbuchrand und im Neckartal schon die ersten Bäume geschlagen worden, um damit in Aich und gleich beim Flüsschen Aich den markanten Hauptbau des Ochsen zu errichten. Das war vor mehr als fünfhundert Jahren. Und so, wie die Dendrochronologie mittels der Jahresringanalyse am Bauholz den zeitlichen Bogen rückwärts schlägt, so haben sich seither am Ochsen viele „Jahresringe“ an baulichen Veränderungen ergeben. Doch vor bald 30 Jahren war Schluss: die gastliche Stätte an der Aicher Hauptkreuzung versank in den Dornröschenschlaf mit all den negativen Folgen für Aussehen und Bausubstanz.

 

Doch jetzt prangt an dem herausgeputzten Haus der Schriftzug „Heinrichs Paukenkessel“ – und das kommt nach der ganzen Vorgeschichte einem wahren Paukenschlag gleich. Denn mit der ungewöhnlichen Bezeichnung, die mit der Musikervergangenheit des Wirtspaares Heinrich und Ingrid Herpich zusammenhängt, wird nicht nur der gastronomische Faden wieder aufgegriffen, sondern mit der Gebäudesanierung ist eine ganze Nutzungspalette verknüpft. So hat sich das Erdgeschoss des jüngeren Anbaus, den der Rottenburger Bauhistoriker Tilmann Marstaller ins Jahr 1554 datiert, in eine Buchhandlung („Bücherscheune“) mit Café verwandelt. Den Hochzeits- oder Tanzsaal darüber nutzt sowohl die Bücherscheune für ihr Kulturprogramm, als auch eine im Hauptbau residierende Stilberaterin für ihre Modepräsentationen. Weiter beherbergt der „neue“ Ochsen eine Start-up-Internetfirma sowie das Architekturbüro von Thomas Klingel.

Schicksalhafte Begegnung am Samstagmorgen

Klingel ist der maßgebliche Mann, der das Ochsenareal vom Dornröschenschlaf erweckt hat. Als schicksalhaft sollte sich dabei eine Begegnung erweisen, die er an einem Samstagmorgen hatte. Damals war im Zuge eines Wertgutachtens eine Abordnung vor dem Gasthof versammelt. Der Architekt mischte sich ein, bekundete sein Interesse an dem Gesamtareal, und nach exakt 20 Monaten hatte er eine Umnutzungsgenehmigung für das Kulturdenkmal in der Tasche.

Zwei Jahre wurde umgebaut, und wenn einmal der Biergarten fertig und die rückwärtige Scheuer auf Vordermann gebracht ist, dann geht Thomas Klingel summa summarum von einer Investitionssumme von zwei bis 2,5 Millionen Euro aus. Zudem, so sagt er, werde derzeit noch ein Kulturverein Ochsenareal „angedacht“.

Frühe Umbauten und neu entdeckte Dekormalereien

Der Umbau des Gebäudeveteranen war für viele Überraschungen gut. So hat man etwa, um Platz zu gewinnen, die nördliche Giebelseite um zwei Meter verlängert, so geschehen 1819. Und 1955 ist die Spitze eines Kellergewölbes gekappt worden, um im darüberliegenden Bereich der Gaststube an Raumhöhe zulegen zu können. Weiter ist man auf Dekormalereien gestoßen, die auf ein früheres repräsentatives Ambiente schließen lassen – immerhin befand sich der Gasthof ja einstens an einer Staatsstraße, die laut der Nürtinger Oberamtsbeschreibung aus dem Jahre 1848 von Stuttgart über Urach, Reutlingen und Oberschwaben bis in die Schweiz führte. Und der selben Quelle zufolge galt Aich lange als geografischer Mittelpunkt des Herzogtums Württemberg.

Der 1685 erste urkundlich erwähnte Ochsenwirt war nach Recherchen des Esslinger Kreisarchivs ein Hannß Jerg Wölflin, es folgten die Deschlers, die Ailes und 1899 ein Georg Lutz. Der Jüngste in der Kette, der 38-jährige Heinrich Herpich, stammt aus Fürth und charakterisiert seine Küche mit „fränkisch-schwäbisch“.

Bei Luise wurde „et g’nutscht!“

Die Speisekarte will das Pächterpaar möglichst übersichtlich halten, und zum Credo zählt, dass erst durch einen rechten Braten der Sonntag seinen Rang erhält. In diesem Sinne sollen auch an jedem zweiten Sonntag im Monat die Schäufele zu Ehren kommen. Und will die gutbürgerliche Küche zum schlichten, aber gediegenen Wirtschaftsinterieur passen, so strahlt das „Menuett“ genannte Nebenzimmer einen Saloncharakter aus, wenn auch freilich einen ausgesprochen dezenten.

„Der Ochsen soll wieder Mittelpunkt im Ort werden“, wünscht sich Ingrid Herpich, die neue Wirtin. Und diesem Ziel dient auch eine Kleinkunstreihe immer am ersten Freitag im Monat und immer zwischen 19 und 21 Uhr. Der Auftakt in der vergangenen Woche war – passend zum Schwabenklassiker Linsen mit Spätzle – der letzten Ochsenwirtin Luise Lutz gewidmet und nannte sich folgerichtig „Luislesabend“.

Als einstiger Stammgast erinnert sich der 79-jährige Aicher Richard Merkle noch lebhaft an das ledige Fräulein. Die Luise sei ein Original gewesen. Wenn es sein musste, habe allerdings ein scharfes Regiment geherrscht. So sei von jetzt auf gleich Schluss mit lustig gewesen, wenn sich in ihrem Hoheitsgebiet als ausgewiesener moralischer Trutzburg ein Pärchen zu nahe gekommen sei. „Bei mir wird et g’nutscht!“, soll dann der strenge und unerbittliche Verweis der Chefin gelautet haben.