Der Internet-Gigant Amazon baut seine Infrastruktur im Südwesten aus. Partner vor Ort verbinden damit große Hoffnungen. Doch für andere ist der US-Konzern ein rotes Tuch.

Tübingen - Es gab Rabatz im Tübinger Gemeinderat. Demonstranten positionierten sich im Saal, skandierten Zwischenrufe, blockierten das Rednerpult, störten den Sitzungsablauf. Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) rief die Polizei. Weil einige der Aktivisten sich weigerten zu gehen, trugen die Beamten sie hinaus. Drei Strafverfahren wegen Hausfriedensbruchs wurden eingeleitet. Grund für den Trubel: Das Gremium beschloss an diesem Abend im November den Verkauf eines städtischen Grundstücks, damit der Onlineversandhändler Amazon dort ein neues Forschungszentrum betreiben kann. Nicht alle in Tübingen finden das gut.

 

„Wir hoffen, das neue Forschungszentrum Ende 2021 beziehen zu können“, sagt Michael Hirsch. Der Physiker leitet ein Amazon-Interimsbüro in Tübingen. 30 Mitarbeiter erforschen dort beispielsweise, wie sich mit Anwendungen aus dem Bereich maschinelles Lernen logistische Prozesse verbessern lassen oder welche Effekte sich auf das Kaufverhalten von Kunden auswirken. Mit dem Bau des neuen Büro- und Laborgebäudes will Amazon nach eigenen Angaben seine Forschung im Bereich Künstliche Intelligenz (KI) vorantreiben und in den kommenden fünf Jahren weitere 100 hochqualifizierte Fachkräfte am Standort Tübingen einstellen.

Pforzheim und Mannheim bereits Amazon-Standorte

1998 ging die deutsche Amazon-Website online. 20 Jahre später machte der US-Konzern nach eigenen Angaben umgerechnet mehr als 209 Milliarden Euro Umsatz weltweit, knapp 18 Milliarden in Deutschland. Bundesweit hat Amazon 13 Logistik- und mehr als 20 Verteilzentren, Standorte im Südwesten sind Pforzheim und Mannheim. Forschungs- und Entwicklungszentren hat Amazon noch in Aachen, Berlin und Dresden.

Dass ein viertes in Tübingen dazukommt, ist dem wissenschaftlichen Ökosystem der Universitätsstadt geschuldet. Tübingen ist Sitz des sogenannten Cyber Valleys, ein vom Land Baden-Württemberg geförderter Forschungsverbund mit akademischen und industriellen Partnern - und mit großen Ambitionen. Das Konsortium will die Region an der Weltspitze in der KI-Forschung etablieren. Mitglied im Cyber Valley sind die Universitäten Stuttgart und Tübingen, das Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Unternehmen wie Daimler, Bosch, Porsche - und Amazon.

Der Verbund selbst profitiert im internationalen Wettbewerb um Sichtbarkeit und Spitzenwissenschaftler von solch globalen Playern. „Amazon hat eine unglaubliche Strahlkraft“, sagt Cyber-Valley-Geschäftsführer Matthias Tröndle. Umgekehrt könne der Konzern am Forschungsstandort Tübingen künftig aus einem Pool an Fachkräften schöpfen.

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Bestehende Niederlassungen der Cyber-Valley-Partner befinden sich im Tübinger Technologiepark, keinen Steinwurf voneinander entfernt. Auch das neue Amazon-Gebäude wird hier aus dem Boden wachsen. Michael Hirsch betrachtet die räumliche Nähe als großen Trumpf: „Die Forschung im Bereich Maschinelles Lernen nährt sich durch den Austausch von Wissenschaftlern.“ Und Hirschs Angaben nach kann dieser Austausch im Cyber Valley auch beim Mittagessen stattfinden. Kritiker fürchten, dass sich in diesem Soziotop Konzerninteressen und freie Wissenschaft unstatthaft vermengen. Tröndle zufolge ist es gerade Zweck des Cyber Valleys, Partner aus Wissenschaft und Wirtschaft zusammenzubringen. Innerhalb der Kooperation finde aber keine Auftragsforschung und Produktentwicklung statt. Hirsch sagt: „Die Partner legen komplett unabhängig voneinander ihre eigenen Forschungsthemen fest.“

Das Tübinger Bündnis „No Cyber Valley“, das zur Demonstration vor der Gemeinderatssitzung im November aufgerufen hat, wirft Amazon unter anderem schlechte Arbeitsbedingungen, die Aushebelung von Arbeiterrechten, ein unökologisches Geschäftsmodell und Monopolbestrebungen vor. Eine nur mit dem US-Konzern funktionierende Forschung sei nicht verantwortungsvoll, teilte ein Sprecher mit.

Verwaltung befürchtet mehr Verkehrsbelastung

Vorbehalte hegen auch Gemeinderäte in Schwäbisch Gmünd. Amazon hatte die Stadt im Ostalbkreis für ein Verteilzentrum ins Visier genommen, in dem Mitarbeiter Pakete sortieren, bevor lokale Dienstleister sie an die Kunden liefern. Nach Angaben eines Stadtsprechers fürchtete der Verwaltungsausschuss mehr Verkehrsbelastung und kritisierte einen hohen Flächenverbrauch gegenüber einer geringen Anzahl neu entstehender Arbeitsplätze. Im Dezember fand sich keine Mehrheit dafür, die Stadtverwaltung mit der Suche nach einem potenziellen Grundstück zu beauftragen.

Meßkirchs Bürgermeister Arne Zwick (CDU) dagegen freut sich auf das Verteilzentrum, das Amazon für 2020 nahe der oberschwäbischen Kleinstadt plant. Das Unternehmen kündigte rund 200 neue Arbeitsplätze an und rechnet mit weiteren rund 500 Fahrer-Jobs bei Partnerunternehmen. Diese befänden sich zwar im Niedriglohnsektor, seien aber krisensicher, sagt Zwick. „Bestellt wird immer. Der Onlinehandel wächst und wächst“, so der Bürgermeister. Das acht Hektar große Grundstück dafür hat der Zweckverband Industriepark Nördlicher Bodensee bereits verkauft. „Der Kreis Sigmaringen gehört zu den eher strukturschwächeren Räumen“, sagt Zwick. „Wir sind froh, wenn jemand Arbeitsplätze in die Region bringt.“ Proteste wie in Tübingen? „Gab’s bei uns nicht.“