Brasiliens Politik-Krimi hat ein Ende - aber Frieden wird das größte Land Lateinamerikas nicht finden. Dilma Rousseff, die zwar Folterkeller und Krebs besiegt hatte, hat ihren größten politischen Kampf verloren.

Brasília - Zum Schluss lassen sie noch einmal ihrem Hass freien Lauf. „Schufte, Schufte, Schufte“, brüllt der linke Senator Lindberg Farias seine Kollegen an. Die Verfechterin der Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff, Senatorin Ana Amélia, beschwört das „neue Brasilien“, ohne die Arbeiterpartei.

 

Nach über 26 000 Aktenseiten über das Amtsenthebungsverfahren und hunderten Stunden an Sitzungen, Beschimpfungen und Verwerfungen wird um 13.35 Uhr (Ortszeit) im Senat eine umstrittene Geschichte geschrieben an jenem 31. August: Die erste Frau an der Spitze ist abgesetzt. Es ist das Ende eines Krimis, der Brasilien gelähmt hat. Aber das Urteil stand schon lange fest, es mutete wie ein Theaterspiel an, um die verfassungsgemäße Legitimität zu wahren.

Rousseffs Reaktion? „Das ist der zweite Staatsstreich, den ich in meinem Leben erleben muss“, sagt sie nach dem Votum in ihrer Residenz, dem Palácio da Alvorada, den sie nun räumen muss. Erst der Militärputsch 1964, der die Guerillakämpferin zeitweise in den Folterkeller brachte, nun der Sturz durch „eine juristische Farce“, wie sie es nennt. 61 Senatoren stimmen für ihren Rauswurf, nur 20 dagegen, eine satte Zwei-Drittel-Mehrheit.

In Brasilía knallen Böller, es gibt Hupkonzerte. Doch das „neue Brasilien“ ist ein gespaltenes. Der neue Präsident Michel Temer ist nicht gewählt - und nicht viel beliebter, aber ein Profi im Intrigenspiel zu Brasilia. Über die Legitimität der Absetzung, Bilanztricks, damit das Defizit milder erscheint, und umstrittene Kredite werden sicher noch Doktorarbeiten geschrieben werden.

Ankläger Miguel Reale wirft Rousseff vor, sich als Märtyrerin zu inszenieren: „Sie hat klar bewiesene Fehler gemacht.“ Rousseffs Verteidiger, Ex-Justizminister José Eduardo Cardozo, unterstellte den Gegnern ein Macho-Problem. „Auf dass die Geschichte Dilma Rousseff freisprechen wird“, sagte Cardozo, den Tränen nahe. Der „parlamentarische Putsch“ werde nie akzeptiert.

Für Brasiliens Demokratie ist es die größte Belastungsprobe seit dem Übergang zur Demokratie 1985, drei Dinge sind klar geworden:

1. Eigentlich braucht das Land Neuwahlen - aber: die Verfassung macht das fast unmöglich, Rousseff hätte gerne das Volk votieren lassen. Vizepräsident Michel Temer und seine Partei der demokratischen Bewegung (PMDB) hatten im März die Koalition mit der linken Arbeiterpartei gebrochen, durch einen Pakt mit der Opposition kamen Mehrheiten für die Suspendierung im Mai und nun für die Absetzung zustande. Temer würde bei Neuwahlen keine fünf Prozent holen. Wegen illegaler Spenden ist er ohnehin von einem Gericht für acht Jahre für Wahlkandidaturen gesperrt worden.

2. Eine Diskreditierung der politischen Klasse. Gegen 60 Prozent der 513 Abgeordneten und 81 Senatoren laufen Ermittlungen. Auch die ersten Drei im Staate sind Korruptionsvorwürfen ausgesetzt: Temer, Parlamentspräsident Rodrigo Maia und Senatspräsident Renan Calheiros. Die jungen Staatsanwälte und Richter, die im weit verzweigten Schmiergeldskandal um den Petrobras-Konzern ohne Rücksicht auf Namen ermitteln, sind nun Stars. Bisher sind neue Hoffnungsträger in Brasiliens Politik kaum in Sicht, die seit 2003 regierende linke Arbeiterpartei steht vor schweren Zeiten.

Ein Kampf der Armen gegen die Eliten

3. Die Eliten schlagen zurück. Vier Mal war der frühere Schuhputzer Luiz Inácio Lula da Silva bei Wahlen gescheitert, 2002 dann der Triumph. Er stieg zum beliebtesten Politiker der Welt auf. Nachfolgerin Dilma Rousseff hatte weniger Charisma und Fortune, seit dem Tag ihrer Wiederwahl 2014 wurde ihr von den Gegnern durch Blockaden im Parlament das Leben schwer gemacht. Eine gängige These: Es muss verhindert werden, dass Brasilien ein zweites Venezuela wird, die Arbeiterpartei hat Geld geraubt, um mit Sozialprogrammen arme Bürger zu bestechen. Es gibt viele Politiker, die unter dem Einfluss evangelikaler Sekten stehen - sie sehen sich auf göttlicher Mission, die Linken zu stoppen.

Temer kann sich nun beim G20-Gipfel in China den anderen Staatschefs vorstellen. Auf ihn warten zwei große Hypotheken: Das Volk ist gespalten. Und die Krise. 11,8 Millionen arbeitslos, die Erdöleinnahmen eingebrochen, zu viel Bürokratie, ein zu großer Staatsapparat. Die milliardenschweren Sozialprogramme könnten auf den Prüfstand kommen - es dürfte einen Politikwechsel geben, die Mitte-Rechts-Regierung wird das Land bis zur Wahl 2018 führen.

Was Oscar Niemeyer, der in Brasília die architektonische Vision einer offenen Demokratie verwirklicht hat, zu all dem sagen würde? Vor dem Senat hatten sie auf der von ihm geplanten großen Freifläche extra eine lange Metallmauer aufgebaut, um Dilma-Fans- und Dilma-Hasser voneinander zu trennen. Aber es kam kaum noch jemand, um zu demonstrieren. Viele sind müde von dem Dauer-Drama.