Pflegeeltern sollten einem von seiner Mutter getrennten Jungen ein sicheres Zuhause bieten. Doch das traute Heim wurde zum Tatort.

Mannheim - Offene Wunden, Handknochenfrakturen, Brillenhämatome, Schlüsselbeinbruch - die im Mannheimer Amtsgericht vorgetragene Liste von Verletzungen eines kleinen Jungen lässt einem den Atem stocken. Staatsanwalt Tobias Lutz verliest am Dienstag in Mannheim die körperlichen Leiden, die Pflegeeltern dem Bub zugefügt haben sollen - ganz zu schweigen von den seelischen Folgen. Ihm gegenüber lauschen die 44-jährige Angeklagte und ihr gleichaltriger Ehemann anscheinend ungerührt den zahlreichen Vorwürfen. Die Frau mit raspelkurzem Haarschnitt, zahlreichen Ohrpiercings und Tattoos auf dem Nacken ist wegen gefährlicher Körperverletzung und Misshandlung Schutzbefohlener angeklagt. Ihrem stämmigen bärtigen Gatten im weißen Hemd wird Körperverletzung und Misshandlung durch unterlassene Hilfe für das wehrlose Kind zur Last gelegt.

 

Lutz schilderte die Pflege in der Familie, zu der auch zwei leibliche Kinder des Paares gehören, zunächst als liebevoll. Doch nach einem halben Jahr änderte sich das. Von Juli 2017 an sei der Junge körperlich gezüchtigt worden. Der Pflegevater habe dem Kind mindestens einmal auf das Gesäß geschlagen. Seine Frau gab dem Jungen laut Anklage drei bis vier Wochen zu wenig oder kein Essen. Hatte der Junge sich dreckig gemacht, duschte ihn die Pflegemutter eiskalt ab, wie es in der Anklageschrift weiter heißt. Sie habe ihm mit der Faust oder flachen Hand ins Gesicht und auf den Oberkörper geschlagen und ihn gegen das Mobiliar geschubst. Durch mehrfache Schläge mit einem Kochlöffel habe sie ihm die Mittelhandknochen gebrochen. Für die auf dem Kopf des Kindes entdeckten kahlen Stellen gibt es einen ungeheuerlichen Grund: Laut Staatsanwaltschaft hat die Pflegemutter ihrem Opfer büschelweise Haare ausgerissen.

Viele Kinder in Pflegefamilien

Angesichts solcher Auswüchse betont der Deutsche Kinderschutzbund: „Jedes Kind hat ein Recht auf gewaltfreie Erziehung.“ Das Kriterium Umgang mit Gewalt spiele auch bei der Gewinnung von Pflegeeltern eine große Rolle, sagt Geschäftsführerin Cordula Lasner-Tietze. Kandidaten würden gefragt, wie sie mit Belastungen umgehen. „Wer dann sagt: Ein Klaps auf den Po hat noch niemandem geschadet, kann eine solche Aufgabe nicht übernehmen.“ Immer mehr Kinder sind in Pflegefamilien untergebracht, im Jahr 2016 waren es bundesweit über 74.000. Im Südwesten lag die Zahl 2017 bei rund 6800. Eltern, die diese Verantwortung übernehmen wollen, werden hingegen seltener.

Der dem Vernehmen nach von einer sehr jungen Mutter geborene Bub hat es seiner früheren Kurzpflegemutter zu verdanken, dass sein Leiden im September 2017 zu Ende ging. Bei einem Kontaktgespräch zwischen der jetzt angeklagten Pflegemutter und ihrer Vorgängerin fiel letzterer der schlechte Gesundheitszustand des Kindes auf. Sie alarmierte das Jugendamt, das die Wohnung der Familie unangemeldet besuchte. Was die Mitarbeiter vorfanden, führte zum sofortigen Ende der Pflege und zu einer Anzeige gegen unbekannt. Da der Prozess bis vor der Urteilsverkündung Ende Februar nicht öffentlich geführt wird, bleiben zunächst noch viele Frage offen, etwa wie die Angeklagten sich äußern und warum die Verletzungen niemandem auffielen.

Frage des Geldes?

Die Pflegemutter hatte die ihr zur Last gelegten Taten bislang bestritten. Der Pflegevater hat dem Gericht nach anfänglichem Schweigen einen Brief unbekannten Inhalts geschrieben.

Ein Freund der ersten Pflegefamilie, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen will, schildert den Jungen als lebenslustig und offen. Er habe ihn nach der Rückkehr aus der Gefahrensituation nicht mehr erkannt, so abgemagert sei der einst kräftige Bub gewesen. „Das ist doch nicht normal“, entfährt es ihm. Ein anderer Prozess-Besucher meint: „Das haben die nur wegen des Geldes gemacht.“ Im Südwesten beträgt das Pflegegeld für bis zu Sechsjährige 837 Euro im Monat.

Ähnlicher Fall im Rems-Murr-Kreis

Der Fall erinnert an das Martyrium zweier Jungen in einer Pflegefamilie im Rems-Murr-Kreis. 1997 starb eine Fünfjähriger an Hunger, sein achtjähriger Bruder war extrem unterernährt gefunden worden. Die Pflegeeltern hatten ihre insgesamt drei Pflegekinder gequält und nur ihre drei leiblichen Kinder gut behandelt. Das Landgericht Stuttgart verurteilte sie 1999 wegen Mordes und Misshandlung von Schutzbefohlenen zu lebenslanger Haft.

Der Junge im aktuellen Fall hat nach Angaben des Freundes seiner neuen Pflegeeltern das Gröbste überstanden. Er laufe ihm wieder fröhlich entgegen, wenn er zu Besuch komme. Doch die Gewalterfahrung lasse sich nicht einfach abstreifen: „Das wird er nie ganz wegkriegen.“