Beim SPD-Neujahrsempfang wirbt Landeschef Andreas Stoch für Daseinsfürsorge in einer kalten Welt.

Leonberg: Thomas Slotwinski (slo)

Leonberg - Die große Resonanz macht den Leonberger Genossen Mut: Zum Neujahrsempfang kommen mehr Besucher als erwartet. In der Steinturnhalle müssen Stühle nachgestellt werden. Und es sind längst nicht nur Mitglieder und Anhänger da. „Ich habe erst gedacht, ich bin bei der falschen Veranstaltung“, witzelt Ottmar Pfitzenmaier, als er im Foyer mit Helmut Noë, Elke Staubach und Oliver Zander gleich drei hochrangige Christdemokraten sieht.

 

Doch der SPD-Fraktionschef erspäht noch weitere parteifremde Gäste: Johannes Frey von den Freien Wählern und Harald Hackert von der Ratsgruppe SALZ sowie die komplette Bürgermeisterriege mit Klaus Brenner, Ulrich Vonderheid und – natürlich – dem Chef. Martin Georg Cohn ist Parteimitglied und wird das auch bleiben, sollte „die alte Tante SPD bei zwei Prozent liegen“, wie der OB versichert.

Dass es soweit nicht kommt, dafür soll unter anderem ein Mann sorgen, den die Leonberger SPD-Chefin Elviera Schüller-Tietze ganz besonders begrüßt: Andreas Stoch, seit 2016 Fraktionschef im Landtag, seit Ende 2018 SPD-Landesvorsitzender. Zuvor war er drei Jahre in der grün-roten Landesregierung Kultusminister.

Öffentlich geförderter Wohnraum muss her

Nun will der 50-Jährige die Sozialdemokraten in Baden-Württemberg in eine bessere Zukunft führen, im Idealfall zurück an die Schalthebel der Macht. Der Jurist aus Heidenheim schickt sich an, bei der Landtagswahl 2021 als Spitzenkandidat ins Rennen zu gehen.

Wie er das zu bewerkstelligen gedenkt, davon bekommt das Leonberger Publikum einen guten Eindruck. Andreas Stoch gibt sich locker und kämpferisch gleichermaßen, genau wie er versucht, traditionelle SPD-Werte mit den Bedingungen der wettbewerbshörigen wie rastlosen Welt heutiger Tage zu verknüpfen.

Beispiel Wohnen: Der Landeschef untermauert Ottmar Pfitzenmaiers Plädoyer für bezahlbaren Wohnraum und berichtet von zu Wohnungen umgebauten Büros in Stuttgart, bei denen 100 Quadratmeter unter dem neudeutschen Begriff „Urban Living“ für 720 000 Euro zu haben sind. Stochs Schlussfolgerung: „Die Menschen fühlen sich verdrängt.“

Damit schlägt er den Bogen zu einem Begriff, der heute nicht mehr en vogue ist: dem Staat. „An welcher Stelle muss der Staat für die Daseinsfürsorge stärker da sein?“, fragt der Politiker rhetorisch und liefert die Antwort gleich mit: „Wir brauchen öffentlich geförderten Wohnraum, denn im Moment entstehen Wohnungen vor allem im obersten Preissegment.“ Der Markt könne eben nicht alles regeln.

Bildung als Schlüssel für alle

Beispiel Digitalisierung: 15 Prozent der Menschen in Baden-Württemberg, so sagt Andreas Stoch, sind davon abhängig, wie es in der Automobilindustrie weitergeht. Dass dort klassische Tätigkeiten verschwinden werden untermauert der SPD-Chef mit zwei Zahlen aus der Forschung: Durch die Digitalisierung werden anderthalb Millionen Menschen ihren bisherigen Job verlieren. Dafür soll es aber 2,5 Millionen neue geben. „Jedem Drittklässler ist klar: Das ist eine Million mehr. Doch was ist mit denen, die den Anschluss an die neue Arbeitswelt nicht schaffen?“

Beispiel Bildung: Stoch setzt noch eine  weitere wissenschaftliche Erkenntnis drauf: „Dreiviertel unserer jetzigen Grundschüler werden in Berufen arbeiten, die es heute noch gar nicht gibt.“ All diesen Unsicherheiten könne nur mit der SPD-Gründungsidee begegnet werden: „Bildung für alle als Schlüssel für Wohlstand und gesellschaftliche Teilhabe.“

„Staat muss aus Zuschauerrolle heraus“

Und das nicht nur während Schule, Lehre und Studium, sondern lebenslang – vom Kindergarten bis zum Ruhestand. Der einstige Kultusminister sieht auch die vorschulische Betreuung als Lernprojekt.

Damit schlägt er den Bogen zurück zum Staat, den er nicht als abstraktes Gebilde definiert, das die Bürger gängelt. Im Gegenteil: „Der Staat besteht aus Menschen in den Parlamenten und der Verwaltung, die viel selbstbewusster sein müssen.“ Denn nur der Staat könne in einer zunehmenden Ellbogen-Gesellschaft das Gemeinwohl sichern.

Einen starken Staat hält Stoch auch für die Verteidigung der Demokratie erforderlich: „Wenn Menschen das Gefühl haben, dass die Politik nichts für sie tun kann, dann verlieren sie den Respekt vor dem Staat und seinen Repräsentanten. Profiteur ist die AfD, die nur Zwietracht und Hass sät, aber keine Lösung bietet.“ Das Fazit vom SPD-Landeschef: „Der Staat muss aus der Zuschauerrolle heraus.“ Im Saal applaudieren auch jene lange, die nicht gerade zum SPD-Stammklientel zählen.