Vor zehn Jahren ist Angela Merkel zum ersten Mal als Bundeskanzlerin vereidigt worden. Ihre bisherige Amtszeit ist vor allem von Krisen geprägt gewesen – Finanzen, Flüchtlinge, Terrorismus. Zurzeit ist unter Druck zu sein wie wohl nie zuvor.

Berlin - Angela Merkel wirkt ungeduldig. Ihrem Blick nach zu urteilen, spricht der Herr neben ihr für ihren Geschmack schon zu lange. Wo doch die Zeit drängt und sie selbst noch einiges zu sagen hat. Es ist diese Mimik, die sich über die Jahre verfestigt hat. Merkel schließt kurz die Augen, nickt und macht dabei eine leicht kreisende Kopfbewegung. Als wollte sie sagen: So, jetzt reicht’s auch. Zu dem Mann hat die Kanzlerin eine ganz besondere Beziehung. Es ist Wolfgang Schäuble, 73 Jahre alt, Bundesfinanzminister, als Reservekanzler gehandelt, falls Merkel über die Flüchtlingskrise stürzen sollte.

 

Jüngste Äußerungen von ihm über die Hunderttausenden Flüchtlinge in Deutschland („Lawine“) waren von vielen als Zündeln gegen Merkel verstanden worden. Beim G20-Gipfel in der Türkei hat sie ihn dann mit zur Pressekonferenz gebracht, die sie auch alleine hätte bestreiten können. Das erhoffte Signal sollte wohl sein: Alles im Lot. Nun spricht Schäuble ausführlich über die vor längerem weitgehend eingetütete Finanzmarktregulierung, während Merkel die Themen Syrien-Krieg, Anschläge in Paris und Flüchtlingskontingente unter den Nägeln brennen. Dafür bleibt dann nicht mehr viel Zeit.

Merkel könnte zurücktreten oder gestürzt werden? Die Kanzlerin, die am Sonntag genau zehn Jahre im Amt ist und alle eines Besseren belehrt hat, die sie nach ihrer ersten Wahl zur CDU-Vorsitzenden im Jahr 2000 für eine Übergangskandidatin hielten und CSU-Chef Edmund Stoiber 2002 für den besseren Kanzlerkandidaten? Die dienstälteste Regierungschefin in der Europäischen Union, die als einzige trotz Eurokrise wiedergewählt wurde? Ausgerechnet die mächtigste Frau der Welt, wie das US-Magazin „Forbes“ Jahr um Jahr ermittelt?

Merkel hat der CDU schon viel zugemutet

Schwer vorstellbar. Kaum denkbar war aber noch vor drei Monaten – als die Union in den Umfragen ungebrochen über 40 Prozent lag und Merkel auf der Beliebtheitsskala ganz oben stand –, dass überhaupt über einen Abgang der 61-Jährigen gesprochen würde. Und dann schon so kurze Zeit später. Seit der Bundestagswahl 2013 hieß es oft, Merkel stehe im Zenit ihrer Macht. Wie lange dieser Zustand andauern würde, vermochte niemand zu sagen. Auch CSU-Chef Horst Seehofer bekundete, Merkel müsse 2017 ein viertes Mal antreten. Nun kritisiert er sie scharf, CDU-Politiker werden skeptischer.

Merkel hat ihrer CDU schon viel zugemutet: Atomausstieg, Ende der Wehrpflicht, moderneres Familienbild. Sie hat damit erfolgreich den Platz der Christdemokraten in der Mitte der Gesellschaft ausgebaut. Aber nun die Flüchtlinge. Die Vielzahl macht den Menschen Angst. Und die Gewalt der Terrormiliz Islamischer Staat, die den Nachbarn Frankreich und damit ganz Europa erschüttert hat, erst recht.

Merkel kämpft dafür, dass beides nicht unzulässig miteinander vermischt wird. Aber sie kann noch keine Lösungen für die Aufnahme und Integration der Hilfesuchenden vor allem aus Syrien präsentieren. Auch, weil sie von der Europäischen Union bisher ziemlich alleingelassen wird. Deutschland kannte das bisher nicht: Merkel als Bittstellerin.

Eigene Akzente in der Flüchtlingsdebatte

Die Politikwissenschaftlerin Sabine von Oppeln von der Freien Universität Berlin sagt, die Flüchtlingskrise werde Merkels Amtszeit prägen. In der Eurokrise habe Merkel ein gutes Krisenmanagement bewiesen, jedoch keine eigenen Akzente gesetzt. „Aber in der Flüchtlingsdebatte bezieht sie explizit und gegen Widerstand aus den eigenen Reihen Position. Das zeichnet eine Kanzlerschaft aus.“

Und von Oppeln meint, selbst wenn Merkel sich einmal vorgenommen haben sollte, als erste aller Kanzler der Bundesrepublik selbstbestimmt und noch während der Amtszeit den Stab an einen Nachfolger zu übergeben, könne sie das jetzt kaum mehr tun. „Wenn Frau Merkel nicht als Verliererin in die Geschichte eingehen will, kann sie jetzt nicht zurücktreten, sondern muss das durchstehen. Und wenn die Union sich nicht ins eigene Fleisch schneiden will, kann sie Merkel jetzt nicht stürzen. Wer wäre denn die Alternative?“

Merkels Karriere klingt märchenhaft: Pfarrerstochter aus der DDR wird Physikerin, schließt sich in der Wendezeit dem neu gegründeten Demokratischen Aufbruch an, wird Vizeregierungssprecherin der ersten und gleichzeitig letzten freigewählten Regierung der DDR, wenig später Bundesfrauenministerin, dann Bundesumweltministerin, dann noch CDU-Generalsekretärin und schließlich als erste Ostdeutsche Chefin der im Westen groß gewordenen Volkspartei CDU – und Bundeskanzlerin.

Amtsmüde wirkt die Kanzlerin nicht

Ein Auszug aus der Liste der Eigenschaften, die Merkel zugeschrieben werden: ausdauernd, amüsant, emotionslos, eisern, eiskalt beim Ausschalten von Konkurrenten, geduldig, höflich, hart, kühl, spröde, ungeduldig, uneitel, unprätentiös, unbestechlich. Im Ausland galt sie wegen ihrer Finanzpolitik schon als „gefährlich“ und als „Terminator“. Die Flüchtlingskrise hat vieles verändert. Merkels Entscheidung, die deutschen Grenzen für fremde Menschen zu öffnen, wirft ein neues Licht auf sie. Warmherzig, spontan, mutig, risikobereit.

Dem ZDF hat Merkel zu ihrer Flüchtlingspolitik gesagt: „Es geht darum, dass ich in der Tat kämpfe. Kämpfe für den Weg, den ich mir vorstelle.“ Wenige Stunden später brach über Paris der Terror herein. Eine noch dramatischere Krise. Nun geht es in Merkels Kanzlerschaft auch um die Solidarität mit Deutschlands wichtigstem Verbündeten in Europa. Und die Frage von Krieg und Frieden. Amtsmüde wirkt Merkel nicht.