Die Ukraine wirft Russland vor, Kriegsverbrechen zu begehen. Und Menschenrechtsorganisationen berichten vom Einsatz von Streumunition. Was hinter den Vorwürfen stecken könnte und was droht, wenn Kriegsrecht gebrochen wird.

In den vergangenen Tagen sind immer wieder Vorwürfe laut geworden, das Kriegsrecht würde in der Ukraine gebrochen. Vor allem Berichte über zivile Opfer haben zuletzt zugenommen.

 

Russland greift immer wieder Kindergärten und Waisenhäuser an. Russland greift Krankenhäuser an. Russland greift mobile medizinische Hilfsbrigaden mit Granatfeuer und Sabotagegruppen an“, hatte der ukrainische UN-Botschafter Serhij Kyslyzja am vergangenen Montag vor dem UN-Sicherheitsrat in New York berichtet. Die Ukraine, aber auch andere Staaten werfen Russland vor, Kriegsverbrechen zu begehen.

Doch was sind solche Kriegsverbrechen genau? Was droht, wenn sie begangen werden? Und welche Berichte, welche Nachweise solcher Vergehen durch Russland gibt es im Krieg gegen die Ukraine?

Wer das Kriegsrecht missachtet, begeht Kriegsverbrechen

Tatsächlich gelten selbst im Krieg bestimmte Regeln – die große Mehrheit der UN-Staaten hat das Kriegsrecht in den Genfer Abkommen von 1949 geregelt. „Es ist zum Beispiel verboten, die Zivilbevölkerung grausam zu behandeln oder Soldaten, die sich ergeben, zu töten“, heißt es im Lexikon der Bundeszentrale für politische Bildung. Nicht erlaubt sind demnach zum Beispiel auch die Folter von Kriegsgefangenen, Vergewaltigung, das Aushungern von Zivilisten oder Plünderungen etwa von Geschäften und Wohnungen. Wer die Regeln missachtet, begeht ein Kriegsverbrechen – und kann vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden.

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Im Falle des Ukraine-Kriegs werden bereits mehrere Rechtsbrüche gesehen – nicht nur Kriegsverbrechen. International wird etwa schon die Invasion Russlands in die Ukraine breit als Verletzung des Völkerrechts verurteilt. Simon Koschut, Professor für Sicherheitspolitik an der Zeppelin Universität Friedrichshafen sagt zur Frage nach Rechtsbrüchen in dem Konflikt: „Das eine ist natürlich der Angriffskrieg an sich: Eine große Nuklearmacht überfällt ein fast wehrloses Land.“ Die Ukraine hat Russland wegen der Invasion bereits vor dem Internationalen Gerichtshof im niederländischen Den Haag verklagt.

Menschenrechtsorganisationen berichten von schweren Angriffen

Hinzu kommen darüber hinaus Berichte über Angriffe auf zivile Einrichtungen durch Russland – und Berichte über den Einsatz von Streumunition. So berichtet die Menschenrechtsorganisation Amnesty International, man habe digitales Material und weitere Quellen ausgewertet und könne den Einsatz von Streumunition in Wohngebieten und nahe eines Kindergartens und einer Schule in der Stadt Ochtyrka bestätigen. Mehrere Menschen seien dabei getötet, weitere verletzt worden. Insgesamt habe man in dem Konflikt bisher bereits vier Angriffe verifiziert, bei denen Schulen getroffen wurden, heißt es von der Organisation.

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Die Organisation Human Rights Watch berichtet von einem Angriff, bei der russische Streumunition ein Krankenhaus in der Region Donezk getroffen habe. Man habe mit Mitarbeitenden des Krankenhauses gesprochen und Fotomaterial ausgewertet, hieß es. Vier zivile Opfer seien tödlich getroffen worden, weitere verletzt.

Einsatz von Streumunition wird international geächtet

„Wenn sich der Einsatz von Streumunition bestätigen würde, wäre das eine humanitäre Katastrophe“, sagt Sicherheitsexperte Simon Koschut. Solche Bomben könnten besonders viele Menschen verletzen und töten, hätten darüber hinaus aber auch eine Langzeitwirkung: „Die Munition besteht aus bis zu Hunderten Teilmunitionen – und ungezündete Teile bleiben dann teils jahrzehntelang liegen, werden vielleicht irgendwann von spielenden Kindern aufgegriffen.“ Aus diesem Grund, sagt Koschut, seien Streubomben international geächtet.

100 Staaten haben sich 2008 auf ein Übereinkommen über Streumunition geeinigt, das Produktion, Erwerb, Weitergabe und Verwendung solcher Streubomben verbietet. Russland und die Ukraine sind dem Abkommen allerdings nicht beigetreten. Ihr Einsatz aber könnte als wahlloser Angriff auf Zivilpersonen gelten – und damit als Kriegsverbrechen.

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Berichte über zivile Opfer, teils auch gezielte Angriffe durch Russland, gibt es inzwischen darüber hinaus einige. Am vergangenen Sonntag etwa soll in der Stadt Sumy ein Bus beschossen worden sein, in dem sich Zivilisten befanden. Auch Koschut stellt fest, dass im Krieg in der Ukraine zunehmend zivile Ziele in den Fokus der russischen Armee geraten. Er fürchtet, dass zivile Opfer durch Russland in Kauf genommen werden. Hintergrund sei, dass der Widerstand der Ukrainer wohl größer sei als von Russland zunächst vermutet – und sich Putin nun unter enormem Druck sehe. „Das bedeutet, dass die russische Armee noch brutaler, noch skrupelloser vorgehen wird“, sagt Koschut. Konkrete Kriegsverbrechen sind allerdings noch nicht systematisch gemeldet oder untersucht worden.

Internationaler Strafgerichtshof verfolgt Kriegsverbrecher

Inzwischen steht nun auch der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag vor der Eröffnung eines Verfahrens. Chefankläger Karim Khan kündigte am vergangenen Montagabend an, dass er Ermittlungen zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine einleiten will. Dabei geht es zunächst vor allem um die blutige Niederschlagung von pro-europäischen Protesten in den Jahren 2013 und 2014, die Besetzung der Krim und die Kämpfe in der Ostukraine. Aber Khan will die Ermittlungen auch ausdehnen auf den jetzigen Krieg. Und dann könnte sogar der russische Präsident Wladimir Putin ins Visier der Justiz geraten.

Anders als das UN-Gericht – der Internationale Gerichtshof – verfolgt das Weltstrafgericht einzelne Akteure wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Aggression. Zwar sind weder Russland noch die Ukraine Vertragsstaaten, doch die Ukraine hat in zwei Erklärungen die Zuständigkeit des Gerichtes für sein Grundgebiet anerkannt. Auch der Vertragsstaat Litauen hat zwischenzeitlich eine Untersuchung gegen Befehlshaber wie Putin und den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko beantragt. Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof dauern in der Regel allerdings mehrere Jahre. Manche hoffen aber, dass bereits Ermittlungen und internationale Haftbefehle ein abschreckendes Signal sein könnten.